Die unsichere Zukunft der Medizin
22.01.2025
New Books in Philosophie
Felix Thiele, "Medizin im Wandel", (Brill 2024)
Felix Thiele, Mediziner und Philosoph, promovierte in Heidelberg, habilitierte sich in Essen im Fach Bioethik und war 16 Jahre lang Stellvertretender Direktor der Europäischen Akademie. 2009 wurde bei ihm eine neurodegenerative Erkrankung diagnostiziert, die seiner wissenschaftlichen Karriere eine neue, persönliche Dimension verlieh.
Patienten stehen mit ihrem Rezept in der Apotheke und bekommen zu hören, dass ihr Medikament nicht lieferbar ist. Solche Engpässe bei Standard-Medikamenten hat es bei uns lange nicht gegeben. Noch sind es vergleichsweise wenige Fälle, oft gibt es eine Ausweichtherapie, sodass man nicht gleich befürchten muss, dass Patienten wegen fehlender Medikamente reihenweise auf der Straße sterben. Solche unvorhergesehenen Lieferschwierigkeiten sind aber kaum mit dem Ideal einer solidarischen Gesundheitsversorgung zu vereinbaren, die jedem Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen lässt und sich am Bedarf eines Patienten und nicht an seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren soll. Auch in anderen Bereichen bleibt die medizinische Versorgung inzwischen hinter den gewohnten Standards zurück: Wartezeiten für dringende diagnostische Untersuchungen und Operationen nehmen stark zu, es fehlt zudem an qualifiziertem Personal. Und es fehlt an Geld, viel Geld für Investitionen, für Innovationen und für den regulären Betrieb.
Das Gesundheitswesen ist in der Krise! Und deshalb wird es jetzt von der Regierung reformiert. Solche Reformen sind allerdings nichts Neues. Auch die Vorgängerregierung und deren Vorgänger der letzten Jahrzehnte haben Gesundheitsreformen auf den Weg gebracht. Und so wird im Takt der Legislaturperioden der Sachstand erhoben, Kommissionen eingesetzt, Experten gehört. Und Gutachten geschrieben, in denen die Empfehlungen des Vorgänger-Gutachtens meist sehr kritisch betrachtet werden, dafür gelegentlich aus den Vorvorgänger-Gutachten geschöpft wird. Ziel der Reformen ist die Stabilisierung der solidarischen Gesundheitsversorgung. Das gelingt aber kaum, denn die Kosten steigen weiter und die Einnahmebasis schrumpft, denn die breite Mittelschicht, die in den letzten Jahrzehnten die finanzielle Hauptlast der Gesundheitsversorgung im Wesentlichen geschultert hat, dünnt aus. Zudem gibt es Anzeichen der Entstehung einer globalen Oberschicht, deren Mitglieder sich einem solidarischen System entziehen können, indem sie sich Gesundheitsleistungen auf dem Weltmarkt einkaufen. Als Folge könnte sich eine Medizin für Vermögende und eine für Habenichtse herausbilden – mit dazu passenden Ärzten für Reiche und Armenärzten. Das heute so gepflegte Bild des Arztes, der sich gleichermaßen in den Dienst aller Bedürftigen stellt, wäre dann nicht mehr realistisch.
Wir haben uns so an das bestehende Gesundheitswesen mit hohem Leistungsstandard für jedermann gewöhnt, dass leicht aus dem Blick gerät, dass es sich dabei um eine relativ junge Entwicklung handelt, die vor gut 150 Jahren ihren Anfang nahm. Die Entstehung dieser modernen Gesundheitsversorgung ist keineswegs allein das Ergebnis erfolgreicher medizinischer Forschung und Praxis. Gesellschaftliche Entwicklungen - wie die Entstehung der modernen Massendemokratie - haben einen wesentlichen Anteil daran, dass sich ein allgemeines, institutionell abgesichertes Gesundheitssystem herausbilden konnte.
Vieles spricht dafür, dass sich die enorme Erfolgsgeschichte der Medizin auch in die Zukunft fortschreiben lässt. Die neuen Möglichkeiten, tiefer und gezielter als jemals zuvor in die menschliche Biologie einzugreifen, haben ein enormes Potenzial, das Verständnis und die Behandlung von Krankheiten zu verbessern. Moderne Methoden der Programmierung - etwa Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz - erlauben es unter anderem, riesige gesundheitsrelevante Datenmengen für die Diagnose und Therapie von Krankheiten einzusetzen. Diese und andere Ansätze der aktuellen medizinischen Forschung werfen Fragen auf, die über den engeren Bereich der Wissenschaften hinaus von gesellschaftlicher Bedeutung sind. Unter Wissenschaftlern dürfte es inzwischen weitgehend akzeptiert sein, dass solche oft normativen Fragen nicht allein durch die Wissenschaft geklärt, sondern gemeinsam mit Politik und Gesellschaft beantwortet werden sollten. Auch hier zeigt sich wieder, dass „erfolgreiche Wissenschaft“ zwar eines der überzeugendsten Argumente für die Förderung der wissenschaftlichen Medizin ist, allein aber nicht die dafür nötigen finanziellen und institutionellen Rahmenbedingungen garantieren kann.
Die Medizin ist kein abgeschotteter Teilbereich der Gesellschaft, sondern auf das engste mit ihr verwoben. Die Prinzipien, nach denen die politische Ordnung einer Gesellschaft strukturiert sind, werden daher auch Einfluss auf die Organisation des in diese Gesellschaft eingebetteten Gesundheitssystems haben. Ein autoritäres Staatswesen wie China kann ohne weiteres medizinisch fragwürdige Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie verordnen – etwa Millionenstädte wie Schanghai in wochenlange Lockdowns zu zwingen. Während im Vergleich wesentlich weniger strenge Maßnahmen in westlichen Demokratien bereits zu teils massiven und sogar gewalttätigen Protestenführen, teils aber auch von Gerichten kassiert werden.
Ebenso wie die Gesundheitsversorgung ist auch die medizinische Forschung eng mit der Gesellschaft verbunden. Der größte Teil dieser Forschung wird mit staatlichen Mitteln finanziert. Der Hauptgrund dafür ist, dass sich die Gesellschaft einen sozialen Nutzen durch diese Investition in die medizinische Forschung erhofft. Auch wenn der Zusammenhang zwischen praktischem Nutzen und staatlicher Finanzierung plausibel erscheint, so wirft die Umsetzung viele Fragen auf - etwa wie „sozialer Nutzen“ eigentlich gemessen werden sollte, nach welchen Kriterien die zur Verfügung stehenden Mittel verteilt werden und wer überhaupt an diesem Aushandlungs- und Verteilungsprozess teilnehmen darf.
Wissenschaftlicher Fortschritt, zumindest bei bahnbrechenden Entdeckungen oder Erfindungen, schlägt neue Richtungen ein, was bedeutet, dass oft bisher für richtig gehaltene Hypothesen oder Theorien infrage gestellt werden. So kommt es unter Fachleuten häufig zu kontroversen Diskussionen über die Validität einer Entdeckung oder Erfindung. Ohne eine freie kritische Diskussion auch kontroverser Themen dürfte sich die Wissenschaft um einiges langsamer und weniger erfolgreich entwickeln. Eine wesentliche Forderung an den Staat ist es, die Gedankenfreiheit und die Freiheit des Gedankenaustausches vor übermäßigen Eingriffen von Staat und Gesellschaft zu schützen. (In den Grenzen der Meinungsfreiheit natürlich.) Entwicklungen wie die sogenannte Cancel-Culture und die kürzlich vor allem an amerikanischen Universitäten stattfindenden Proteste zeigen aber auch, dass die Freiheit der Gedanken auch im Innern der Universität geschützt werden muss.
Man kann feststellen, dass die medizinische Forschung in den freiheitlichen Demokratien eine gewisse Glaubwürdigkeit hat. Betrachtet man im Vergleich dazu aber die Art und Weise, in der Chinas autokratische Führung Kritiker ihrer Strategie zur Bekämpfung von COVID gängelt und mundtot macht und so drakonische wie wissenschaftlich zweifelhafte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als „Volkskrieg gegen das Virus“ durchsetzt, dann ahnt man, was wir zu verlieren haben. Die Fantastereien eines Donald Trump über seine Kompetenzen als oberster COVID-Bekämpfer zeigen zudem, wie schnell auch ein über Jahrzehnte bewährtes System der wissenschaftlichen Gesellschaftsberatung unter Druck geraten kann.
Die Hoffnung, dass eine erfolgreiche medizinische Forschung allein ausreicht, um ihre eigene finanzielle und institutionelle Zukunft zu sichern, ist trügerisch. Einerseits verfügen andere gesellschaftliche Teilbereiche wie das Bildungswesen oder die Landesverteidigung über ihre eigenen Erfolgsnarrative, mit denen sie um gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit konkurrieren. Andererseits können Ereignisse eintreten – wie etwa ein Krieg –, auf die die Wissenschaft keinen Einfluss hat und die die öffentliche Aufmerksamkeit möglicherweise von ihr ablenken.
Ob es der Medizin gelingt, die Herausforderungen, die sich ihr auf dem Weg in die Zukunft stellen, zu bewältigen, ist offen. Mit Blick auf den Erfolg der modernen medizinischen Wissenschaft ist die Aufgabe jede Mühe wert.
