Impuls O – Ordnung: Alles in Ordnung? Mitnichten! (C.O.R.O.N.A. 4/20)
05 August 2021
Christa H. Herold »Lösungsfokussierte Beratung: Ein Fünf-Bausteine-Modell«, (Vandenhoeck & Ruprecht 2021)
1. Impuls C – CHANCE
2. Impuls O – ORDNUNG
3. Impuls R – RESILIENZ
4. Impuls O – OPTIMISMUS
5. Impuls N – NACHHALTIGKEIT
6. Impuls A – ALTERNATIVEN
Wer hätte gedacht, dass das Coronavirus in Deutschland einmal so schnell die größtenteils geordneten Verlässlichkeiten des Kita-, Schul-, Berufs- und Alltagslebens, der Sicherstellungen im Gesundheitssystem und im Großen und Ganzen auch der Annehmlichkeiten in der Freizeit- und Urlaubsgestaltung derart rasant beeinflussen würde? Nur noch weniges ist in unserem Leben davon nicht betroffen, eines greift in das andere. Vieles wurde von links auf rechts gedreht und erschien nicht mehr wie tags zuvor. Machen wir uns nichts vor: Wir werden es in seinem vorherigen Zustand auch nicht mehr wiederbekommen. Es gehört zum Gestern.
Noch eben bestand die Freude über 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges: einer Freude über die harte, erfolgreiche Arbeit des Wiederaufbaus von vielen zum Großteil zerstörten Städten und dieser langen Friedenszeit – zumindest in Europa –,einer Freude über die Annäherung oder gar Freundschaft von einst sich bekriegenden Nationen, einem Schweigen der Waffen, einer immer besser gelingenden Beziehungsarbeit mit Schuldeingeständnissen, Ausgleichszahlungen und Wiedergutmachungen, einer Wiedereingliederung von Millionen geflohener Menschen über die Jahrzehnte hindurch und letztlich einem unblutigen Mauerfall – einem Wunder an sich, dem weltweit die größte Anerkennung gezollt wird.
Nicht alles ist in der jüngeren Vergangenheit im Pandemie-Management vollumfänglich gelungen, einiges ist auch in die Hose gegangen – ohne Klopapiermangel –, begleitet von negativen Bewertungen, Urteilen und Gefühlen. Allein davon bedarf es der weiteren Bewältigung.
Finanziell sah es in Deutschland seit 1945 große Strecken ganz passabel und erfreulich aus. Die freigiebige staatliche Hand zögerte in den letzten Jahren zwar in punkto Ausgaben und Verschuldung, um die schwarze Null zu halten. Wie gut das war, kann erst jetzt wertgeschätzt werden, wo so viel Geld an allen Ecken und Enden gebraucht wird. Denn nun kam dieses unberechenbare Coronavirus-Ungeheuer über uns – ohne Rücksicht auf Verluste – mit schrecklichen Auswirkungen auf verschiedenen Gebieten, die sich im freien Fall befanden!
In diesem Zusammenhang werden die für uns alle bisher gewohnt positiv formulierten Vergleiche zwischen heute und damals – „seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges“– nunmehr negativ gewendet: „Es ist so schlimm/schlecht/schwer wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr!“
Wieder werden Begrifflichkeiten wie Gesetzesänderungen, Notstandsgesetze, Rettungsschirm, Wirtschaftskrise und Wiederaufbau in aktuellen und vorausplanenden Denkweisen verbaut. Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen des Gesundheitssystems sind tendenziell am Anschlag und erst recht das medizinische, helfende Personal, das mit seinen Kräften seit Monaten im unermüdlichen Einsatz ist!
Und das Licht am Ende des Tunnels ist noch lange nicht in Sicht. Wir haben es hier mit einem absoluten Novum zu tun, das die ganze Weltbevölkerung betrifft. Wie geht es weiter? Ist das Virus eine launische Diva, die man in den Griff bekommen kann? Wird zeitnah genug effektiver, nachhaltiger Impfstoff produziert und weltweit verimpft werden können, so dass sich die COVID-19-Pandemie immer besser kontrollieren lässt?
Konflikte und Stress, Überbelastung und Reizbarkeit, Aggression und Gewalt tun sich wie ein dunkler Moloch bei uns Pandemiegeschüttelten auf. Diese Gefühle erscheinen gleich einem emotionalen Hausbesetzer. Als unliebsame Mitbewohner lauern sie unverschämt in allen Ecken des täglichen Lebens. Der in Folge erreichte Stresslevel mit seinen Nebenwirkungen ist nur sehr schwer herunterzufahren oder gar abzubauen.
Was sich bei uns bis dahin als Altlasten der Vergangenheit wie in einem unteren Kanalsystem verborgen hielt oder gar latent dahinschwelte, bekam und bekommt durch die Drucksituation der Pandemie einen enormen Energiezuwachs und gelangt mitsamt seinen Wirkungen als verschiedenen „Hotspots“ ans Tageslicht. Explosionsartig verselbstständigten sich die einzelnen Teile und entwickelten sich, als ob auf die schwelende Glut auch noch Öl gegossen worden wäre. Zu der Entwicklung von lebensfeindlichen Kräften trug in dieser Phase weiterhin für manche:n Betroffene:n oftmals ein wenig verständnisvolles Umfeld zusätzlich mit bei und brachte Unordnung in systemischer Verstärkung.
Ordnung in den verschiedenen Lebensbereichen
Die äußere (materielle) Ordnung
Diese nunmehr monatelang andauernden Engpass-Zeiten mit noch auferlegter Beschränkung in der Lebens- und Freizeitgestaltung nahm manche:r zum Anlass, einmal aufzuräumen. So wurde seit dem ersten Lockdown im März 2020 in Wohnung, Haus und Keller getan und gemacht, was man immer mal machen wollte –aber bisher liegen geblieben war! Die Baumärkte und Gartencenter erlebten einen enormen Boom.
Ordnung regelt in seinen verschiedenen Bereichen oder Dimensionen unser Leben. Diese zu gewährleisten, dafür sorgen bestimmte Regeln, Gesetze, Ge- und Verbote und Anordnungen. Sie bilden das Geländer im sozialen Miteinander. Hinzu kommt eine persönlich-individuelle Ordnung und Gestaltung.
Wenn man sich etwa Wohnungen ansieht, dann bewegen sich diese z. B. bezogen auf das Wohnzimmer von einem fast steril aussehenden, das sich auch als Ausstellungsstück auf einer Möbelmesse gut als solches finden ließe, bis hin zu einem kleinen Museum, überbordend voller Kleinteile und Sammlerstücke. Bemerkungen aus dem Freundeskreis wie: „Soll ich dir mal helfen auszusortieren?“ oder der wohlmeinende Vorschlag: „Ich besorge einen Container und dann gehen wir mal zusammen ran!“, grenzt für manche:n an Respektlosigkeit. Warum? Weil das Ganze in der Gestaltung für die jeweilige Person zu ihrem Leben gehört, ein Teil davon ist und ein kreativer Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Für sie ist eventuell jedes Teil mit einer kleinen Geschichte verbunden und hat eine für sie eigene emotionale Bedeutungszuschreibung.
So kann ein bestimmtes Nippes für etwas Besonderes aus dem persönlichen Leben stehen: Vielleicht ist es mit einer guten Erinnerung verknüpft oder stellt ein Symbol dar für eine überwundene schwere Situation. Weiterhin kann es auch eine Belohnung sein für eine Phase nach einem großen oder schweren Verzicht. Dann wäre es doch eine respektlose Vermessenheit, das Gegenüber zu einem bestimmten Handeln zu drängen oder ihm etwas überstülpen zu wollen, was er tun oder lassen soll. Wenn es an der Zeit und die innere Bereitschaft dafür vorhanden ist, es loszulassen und freizugeben, werden sich die Besitzer schon von selbst davon trennen – zu ihrer Zeit und in ihrem Tempo.
Dieses Beispiel ist thematisch zu übertragen auf den „Besitz“ jeglicher Art von Materiellem in allen privaten, bewohnten und benutzten Räumen oder Flächen sowie einem respektvollen Umgang miteinander. (Selbstredend ist hierbei das grenzwertige Verhalten einer „Vermüllung“ ausgeschlossen.)
Die innere (immaterielle) Ordnung
Wenden wir uns nun thematisch dem Immateriellen zu und dem, was mit den inneren Lebensräumen und den zwischenmenschlichen Beziehungen mit ihrer jeweiligen Kommunikation zusammenhängt. Da ist eine Bibliothek in uns mitsamt den Bildern und Erinnerungen von Ereignissen, Erlebnissen und Geschichten sowie verbunden mit ihren positiven und negativen Gefühlen, Bewertungen und Be- oder Verurteilungen. Das Ganze ist thematisch in verschiedenen Dateien und Ordnern abgespeichert und stammt aus dem aktuellen Jetzt oder aus der Vergangenheit. In systemischen Netzwerken ist dieses über Schaltkreise und Interfaces verschaltet und jederzeit abrufbar.
Die Gegenwart ist auch für unsere innere Ordnung eine Herausforderung. Ich will sensibel sein, mich umsichtig und nicht oberflächlich verhalten. Mein tiefer Respekt und mein Mitgefühl gilt all jenen, die durch Covid-19 und dessen Folgen in persönliche, berufliche und finanzielle Krisen – wie im freien Fall – gestürzt wurden. Ich sitze mit im Boot. Wie schnell und in rasender Geschwindigkeit kann es einen niederreißen?
Und was ist, wenn Familienangehörige oder enge Freunde sich vielleicht gerade jetzt verabschieden – aus welchen Gründen auch immer? Sie auf Distanz gehen? Sie „alte Rechnungen“ aufmachen? Sie in den ohnehin schon vollen Rucksack „ihre Steine“ dazupacken wollen, in Form von ihren Problemen und Ängsten bis hin zur Hilflosigkeit – obwohl sie nicht den existenziellen Konsequenzen eines „harten Lockdown“ erlegen sind?
Da mag in dieser Zeit das sonstige intensivere Verstehen der anderen Person und das geduldige Verständnis für ihre Belange auch einmal auf der Strecke bleiben, weil die Ressourcen und Kräfte gerade noch für das eigene Emotionsmanagement und ein bemüht umsichtiges Handeln ausreichen. Selbstredend bedarf es einer klugen Umgangsweise und einem Haushalten mit der eigenen Kraft, wie diese jeweils aufgeteilt und wozu sie eingesetzt werden soll. Auf manche Fragen bezüglich eines etwas unangemessenen Verhaltens Antworten zu finden, ist aus zeitlichen Gründen müßig. Da heißt es zunächst, sich mit vorläufigen oder hypothetischen Antworten zufriedenzugeben oder auch mit gar keiner.
Passierte es nicht schon so vor über zwei Jahrtausenden dem biblischen Hiob? Er hatte alles verloren: Kinder, Haus und Hof mitsamt seinen Tieren und einem Teil seiner Mitarbeiter. Und nun ging es an seine Gesundheit. Da setzte seine Frau noch eins oben drauf, als ob sie das alles gar nicht berühren würde. Sie zischte Hiob in seiner ohnehin schon misslichen Lage und in einer – vermutlich – zynischen und böswilligen Haltung zu (Hiob 2,9b): „Sage Gott ab und stirb!“
Wohl denjenigen, die jetzt enger zusammenrücken und sich aufeinander verlassen können, die besonders und in wohltuendem Maße durch die Familie oder den Freundeskreis Halt, Zuflucht und Sicherheit finden mit einem warmen Nest und empathischer Fürsorge! Wer diese Unterstützung nicht so erlebt und sich in seiner Misere allein zurechtfinden muss, vielleicht auch noch zusätzlich mit dem oben Beschriebenen belastet wird, der kann geradezu ein bisschen neidisch werden. Trotz alledem kommen wir an der inneren Auseinandersetzung und der Reflexion nicht vorbei.
Christa H. Herold, Psychologische Beraterin, ist in eigener Praxis in der systemisch-lösungsfokussierten Beratung, Therapie und Supervision tätig. Darüber hinaus ist sie geprüfte Schriftpsychologin, Burn-out-Beraterin und zertifizierte Mediatorin.
