Systemische Beratung – Therapie – Psychotherapie: Eine Frage des Settings?
06 January 2021
Tanja Kuhnert (Hg.), Mathias Berg (Hg.) »Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags«, (Vandenhoeck & Ruprecht 2020)
Theoretiker*innen und Praktiker*innen in unserem Buch scheinen sich einig zu sein: Es gibt fließende Übergänge zwischen systemischer Beratung, Therapie und Psychotherapie. Definitorisch und rechtlich gibt es wenig bis keine verlässlichen Unterscheidungskriterien. Die Grenzen sind fließend und eher Übergänge mit fluiden Überschneidungen als denn starre Unterscheidungsmarkierungen. Das einzig einigermaßen klar definierte Merkmal ist, dass approbierte Psychotherapeut*innen Kranke heilen¹ und dass nur Fachkräfte mit staatlich anerkannter Ausbildung psychotherapeutisch tätig werden dürfen.²
Eine Chance zur weiteren Professionalisierung?
Das bedeutet einerseits für systemische Therapeut*innen mehr Freiheit und andererseits mehr Unsicherheit und offene Fragen. Das eröffnet für alle die Aufgabe, sich mehr selbst zu vergewissern, was sie wann, wo mit wem und warum tun. Das könnte insgesamt zu einer stärkeren Professionalisierung der Einzelnen führen: Mehr Selbstvergewisserung, mehr Selbstreflexion des eigenen Handelns führt zu mehr Sicherheit im Innen und Außen; für mich und andere wird mein Profil, meine Haltung, mein Vorgehen deutlicher erkennbar. Das erzeugt in mir aber auch bei Klient*innen und Kund*innen mehr Sicherheitsempfinden.
Unterscheidungskriterien?
Im Buch »Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags« haben Kolleg*innen aus der Praxis heraus dargestellt, was für sie systemtherapeutisches Vorgehen bedeutet (bzw. bedeuten könnte), und haben dabei unabhängig voneinander ähnliche Kriterien entwickelt, anhand derer sie ihr eigenes professionelles Handeln einordnen.
Zunächst beziehen sich einige Kolleg*innen auf das Modell von Ludewig, welches sie als besonders hilfreich darstellen, um Aufträge und Arbeitssettings reflektieren und damit einordnen zu können. Ludewig (2013) unterscheidet in seinem Modell zwischen Anleitung, Begleitung, Beratung und Therapie (siehe z. B. Kuhnert, Kruse und Herchenhan im Buch³). Für die Praxis ergibt sich damit ein gut anwendbares Unterscheidungskonzept. Es bietet die Möglichkeit anhand der jeweiligen Auftragsformulierung und des dargestellten Bedarfs ein individuelles Setting zu kreieren. Die Kolleg*innen stellen dar, wie sie davon abhängig eher sozialarbeiterische, beraterische oder therapeutische Angebote machen – eben bedarfsspezifisch (siehe z. B. Nassenstein). Das bedeutet aber auch, dass die jeweiligen Fachkräfte über ein umfangreiches professionelles Angebot verfügen müssen, um diese bedarfsgerechten Angebote machen zu können. Marion Ludwig schildert, wie z. B. in der Wohnungslosenhilfe therapeutische Angebote nur dann entstehen, wenn die Mitarbeiter*innen dementsprechende Weiterbildungen besucht haben (siehe z. B. Ludwig). Es wird deutlich, dass dadurch Zielgruppen auch therapeutisch erreicht werden, die im herkömmlichen Versorgungssystem mit niedergelassenen approbierten Psychotherapeut*innen häufig keine Anbindung finden.
Systemlogiken fordern uns heraus?
Einige Autor*innen stellen eindrücklich dar, dass systemtherapeutisches Wissen in ihrem Arbeitsfeld und in einzelnen Prozessen hilfreich ist, um Systemdynamiken anders verstehen zu können. Insbesondere, wenn existenzielle Themen, wie Geburt, Sterben/Tod/Suizid, aber auch Sucht, Straffälligkeit, psychische Belastungen im jeweiligen Klient*innensystem im Fokus stehen. Therapeutisches Know-How wird dann als unterstützend erlebt, um intensive emotional Prozesse sicherer rahmen und halten zu könne; selbst dann, wenn kein eindeutig therapeutisches Angebot erforderlich ist (siehe hierzu z. B. Welle und Breiholz, Nassenstein, Strecker, Zwicker-Pelzer, Klein, Kiepke-Ziemes).
Ein Fazit
Wenn also in Familien oder System existenzielle Themen Teil der Muster und Dynamiken sind, dadurch die Komplexität als hoch erlebt wird, Menschen selbstschädigendes Verhalten entwickelt haben und es um Leben und Tod geht, erleben Kolleg*innen systemtherapeutisches Wissen und Handeln als hilfreich. Sie fühlen sich handlungsfähiger und damit sicherer in der Prozessteuerung.
Damit ginge es nicht in erster Linie darum, was die Unterscheidung zwischen Systemischer Therapie und Systemischer Psychotherapie ist, sondern um die Frage: Wann ist systemtherapeutisches Know-How erwünscht, erforderlich und wann unterstützt es Fachkräfte dabei ein hilfreiches Unterstützungsangebot zu machen?
„Aus meiner Perspektive beinhaltet die grundlegende Fachkompetenz das Wissen über innerpsychische Prozesse und Krisen, die Dynamik sozialer Systeme, Nähe und Distanz sowie die Fähigkeit zur Geduld, um nicht vorschnelle, dem eigenen inneren Prozess stimmig erscheinende Lösungen anzubieten“ (Nassenstein, 2020).
Tanja Kuhnert, Diplom-Sozialarbeiterin, M. A. Management in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, Systemische Beraterin und (Familien-)Therapeutin (DGfB/DGSF/SG), Supervisorin, Coachin und Organisationsberaterin (DGSF), Lehrende für Systemische Beratung, (Familien-)Therapie, Supervision und Coaching (DGSF), Traumatherapeutin (PITT), Traumafachberaterin (DGePT), European Psychotherapist (ECP), ist für verschiedene DGSF zertifizierte Weiterbildungsinstitute tätig und hat eine eigene Praxis in Köln. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) e. V. Hier war sie Gründerin und Sprecherin der Fachgruppe Armut-Würde-Gerechtigkeit, Mitglied im Forum Gesellschaftspolitik sowie aktiv in verschiedenen Fach- und Arbeitsgruppen tätig. Gemeinsam mit Mathias Berg hat Tanja Kuhnert jüngst das Buch »Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags« herausgegeben, das sich mit Systemtherapeutischen Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten beschäftigt.
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¹ Was aus systemisch-konstruktivistischer Sicht per se schon diskussionswürdig ist, siehe hierzu auch unser Buch und Kapitel IV Diskussion, S. 311 ff.
² PsychThG §1 Absatz 1: »Wer die Psychotherapie unter der Berufsbezeichnung „Psychotherapeutin“ oder „Psychotherapeut“ ausüben will, bedarf der Approbation als „Psychotherapeutin“ oder „Psychotherapeut“. (…). Absatz 2: Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Gesetzes ist jede mittels wissenschaftlich geprüfter und anerkannter psychotherapeutischer Verfahren oder Methoden berufs- oder geschäftsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist. (…)». Entnommen 16.12.2020, unter: https://www.gesetze-im-internet.de/psychthg_2020/BJNR160410019.html
³ Alle Quellen, auf die ohne nähere Angaben verwiesen wird, beziehen sich auf: Kuhnert, T., Berg, M. (Hg.): Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Literatur
- Kuhnert, T., Berg, M. (Hg.) (2020): Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Ludewig, K. (2013): Entwicklungen systemischer Therapie. Einblicke, Entzerrungen, Ausblicke. Heidelberg: Carl Auer.
- Nassenstein, M. (2020): Komplexität in sich verändernden Systemen: Schwangerschafts- und Familienberatung. In: Kuhnert, T., Berg, M. (Hg.): Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.