Wer sich ohnmächtig fühlt, sollte jeden Entscheidungsspielraum nutzen
11 June 2022
Stefan Balázs" Setze dein Leben neu zusammen - Lebenskrisen mit dem Tangram‐Prinzip meistern", (Vandenhoeck & Ruprecht 2022)
Wir leben in Zeiten, in denen wir oft das Gefühl haben, fremdgesteuert zu sein und nichts beeinflussen zu können: Wir haben Krieg in Europa, die Energiepreise explodieren, die Inflation steigt und steigt. Das Gefühl der Ohnmacht wächst bei vielen.
Die wenigsten von uns haben das Geschehen in der Hand, vielmehr herrscht der Eindruck des Ausgeliefertseins vor. Das stimmt in dem Punkt, dass nur Einzelne qua ihrer Position direkten Einfluss auf die Weltwirtschaft, die Politik oder das Klima haben. Aber auch, wenn wir nicht zu den mächtigsten Personen in Politik und Wirtschaft gehören, können wir aber innerhalb eines bestimmten Rahmens oftmals mehr bewegen, als wir glauben – selbst dann, wenn die Situation völlig aussichtslos erscheint.
Vor diesem Hintergrund hat mich das Buch von Viktor E. Frankl »… trotzdem Ja zum Leben sagen« (1946/2014) sehr beeindruckt. Der führende deutschsprachige Neurologe und Psychiater seiner Zeit hat den Text ein Jahr nach seiner Befreiung aus dem KZ-Außenlager Kaufering VI – Türkheim innerhalb weniger Stunden niedergeschrieben. Heute gilt es als »eines der zehn einflussreichsten Bücher in Amerika« – so die Bewertung der Forschungsbibliothek des Kongresses der Vereinigten Staaten, der »Congress Libary«. Frankl befand sich wegen seines jüdischen Glaubens in den Fängen der Mordmaschinerie des Nationalsozialismus – eine Situation, wie sie aussichtsloser kaum sein könnte.
Ausgerechnet im Konzentrationslager fand er einen »Rest von geistiger Freiheit, von freier Einstellung des Ich zur Umwelt auch noch in dieser scheinbar absoluten Zwangslage« (Frankl, 1946/2014, S. 102). Diese verbleibenden minimalen Entscheidungsfreiräume »haben Beweiskraft dafür, daß man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen« (S. 102). Dabei geholfen habe die Aussicht auf Hoffnung: »Die meisten hatten etwas, das sie aufrecht hielt, und meistens handelte es sich hierbei um ein Stück Zukunft« (S. 112).
Wovon Frankl spricht sind »Micro-Entscheidungen« häufig vermeintlich banaler Dinge: Wie beiße ich von meinem Stück Brot ab, gehe ich im Hofgang heute rechts oder links herum oder tausche ich das Stück Draht gegen einen Schnürsenkel. Diese Bewahrung von Freiheiten ließ den Menschen in Unfreiheit ihre Menschlichkeit bewahren, ist Frankl überzeugt.
Micro-Entscheidungen zeigen uns, dass wir noch handlungsfähig sind
Zum Glück sind die meisten von uns keinen solchen Extremsituationen ausgesetzt. Und dennoch müssen etliche von uns kämpfen, diese Freiheit für Micro-Entscheidungen wahrzunehmen und zu nutzen. Muss ich wirklich immer direkt nachsehen, wenn mit einem Ping eine neue E-Mail ankommt oder das Handy wegen einer weiteren Push-Benachrichtigung vibriert? Müssen wir wirklich immer gewisse Verhaltensweisen an den Tag legen, weil es von uns erwartet wird? Was passiert eigentlich, wenn wir Dinge mal ganz anders tun als sonst?
In der Regel nichts Schlimmes, in den meisten Fällen sogar etwas Gutes, denn es fühlt sich gut an, Entscheidungen zu treffen. Sie sind ein weiteres Stück erlebte Selbstbestimmung und das beste Mittel dagegen, sich den Umständen ausgeliefert zu fühlen. Ich kann einen Krieg wahrscheinlich nicht beenden, aber versuchen, nach den eigenen Möglichkeiten dessen Folgen für andere Menschen ein wenig zu mindern. Nicht jede:r kann flüchtende Menschen bei sich aufnehmen, aber möglicherweise andere dabei unterstützen, dies zu tun. Ich kann die Umweltzerstörung und die Klimakatastrophe vielleicht nicht im Alleingang stoppen, aber mein Verhalten überprüfen, und schauen, was ich beitragen kann, um den Klimawandel zu verlangsamen. Wie viel Plastik als Umverpackung nehme ich als Konsument:in in Kauf und was davon lasse ich bereits im Geschäft, damit dokumentiert wird, was Kund:innen nicht mehr mitnehmen wollen? Und überhaupt: Wie kaufe ich ein und was brauche ich davon wirklich? Neulich erinnerte mich jemand an eine Redewendung aus der Generation unserer Großeltern: »Wir sind zu arm, um billig zu kaufen.« – Da ist etwas dran, wenn ich mit einer längeren Lebensdauer der Produkte einen kleinen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten möchte.
Private Lebenskrisen in fünf Schritten meistern
Diese Freiräume zu finden, in denen ich die Kontrolle übernehmen oder behalten kann, hilft nicht nur gegen Ohnmachtsgefühle im aktuellen Weltgeschehen, sondern auch ganz besonders bei Krisen privater Natur. Sei es, dass ich mich im Beruf der Willkür einer Führungskraft ausgeliefert oder in der Partnerschaft oder der Trennungsphase Attacken ausgesetzt fühle. Die Kontrolle zurückzugewinnen ist der finale Wendepunkt, wenn wir nach einer Lebenskrise das Leben neu aufstellen müssen. Ich sehe diesen Punkt als den fünften einer Reihe von Schritten, die uns helfen können, Lebenskrisen zu meistern:
- Schlusspunkt setzen!
- Loslassen!
- Hassen unterlassen!
- Ziele justieren!
- Kontrolle zurückgewinnen!
Aber beginnen wir am Anfang: Erst, wenn wir erkannt haben, dass Änderungen notwendig sind, kann ein Schlusspunkt gesetzt werden. Dann müssen wir uns – in erster Linie emotional – von Bisherigen trennen. Etwas richtig loszulassen bedeutet eben auch, nicht über Hassgefühle damit noch länger verbunden zu bleiben. Es gilt zu überlegen: Was will ich vom Bisherigen behalten? Was verändern? Was will ich Neues in meinem Leben haben? Die Lebensziele werde neu justiert. Dafür sind viele kleine Entscheidungen notwendig und durch diese übernehmen wir wieder die Kontrolle über unser Leben. Aus den Scherben unseres alten Lebens bauen wir etwas Neues, für uns Passenderes.
Warum ist das so entscheidend? Wer das Gefühl hat, das eigene Leben liege in Scherben, möchte sein Leben kitten. Die Chance auf Gelingen steigt, wenn wir nicht unbedingt versuchen, die alte Form wiederherzustellen, sondern offen dafür sind, aus den Bruchstücken etwas Anderes, etwas Neues zusammenzusetzen.
Tangram als perfekte Metapher
Das alte chinesische Legespiel bietet dafür die perfekte Metapher: Mit der scheinbar unendlich wirkenden Zahl möglicher Kombinationen der sieben Einzelteile führt uns das Tangram-Legespiel vor Augen, dass aus identischen Bestandteilen vielfältige neue Formen entstehen können. Kein Teil muss weggelassen, keines ergänzt werden: In der Summe der Teile können wir unser Ich bewahren und unser Leben dennoch völlig anders gestalten. Tangram-Figuren sind immer flächenkongruent, d. h. sie mögen völlig verschieden wirken, haben aber dieselbe Fläche und bleiben somit immer eine (andere) Gestalt des Vorherigen. Auch in der Bewältigung von Lebenskrisen müssen wir nicht alles Bisherige aufgeben oder unsere Persönlichkeit vollständig ändern, sondern eher den Mut und die Fantasie aufbringen, die Einzelteile neu zusammensetzen. Im Privaten wie im Globalen ändert sich nichts über Nacht. Aber je mehr Entscheidungsspielräume wir suchen, finden und nutzen, desto mehr tragen wir auch zu möglichen Veränderungen bei – für uns und für andere.
Ich lade Sie ein, es auszuprobieren: Geben Sie jedem der sieben Tangram-Teile eine Bedeutung, die als Baustein Ihres Lebens eine gewisse Relevanz für Sie hat (z. B. Familie, Beruf, Hobby etc.). Formieren Sie die Teile so, dass es sich für Sie gut und richtig anfühlt. Spüren Sie sich in die neue Figur ein. Wie fühlt es sich an, wenn Sie das eine irrelevant Gewordene durch einen neuen Aspekt tauschen, den einen Bereich stärker als bisher gewichten, bislang einander unversöhnlich Gegenüberstehendes nebeneinander platzieren? Merken Sie es? Es tut sich was. Innere Blockaden kommen langsam in Bewegung. Sie werden noch staunen, in wie viele Formen wir unser Leben neu zusammensetzen können.
Stefan Balázs hat fast 20 Jahre in der Unternehmenskommunikation der internationalen Holding eines Energiekonzerns in Essen gearbeitet, bevor er als Social-Media-Experte in die Landesverwaltung Nordrhein-Westfalens wechselte. Persönliche Erfahrungen machten ihn zum Fachmann für Ratgeberliteratur und stattete ihn mit dem Wissen aus, das jemand braucht, wenn das Leben nur noch ein Scherbenhaufen ist.
Zitierte Ausgaben:
Frankl, Viktor E. (1946/2014). … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (6. Aufl. der Neuausgabe von 2009). München: Kösel.