Wien im Mittelalter. Zeitzeugen und Analysen
11 October 2021
Peter Csendes, Ferdinand Opll,"Wien im Mittelalter. Zeitzeugnisse und Analysen ", (Böhlau 2021)
Wien-Geschichten gibt es schon seit langem in großer Zahl und diese bieten im Regelfall eine historische, chronologisch aufgebaute Darstellung der Stadtentwicklung. Das neue Buch des Autorenteams, das auf dem Felde der Wiener und der vergleichenden Städtegeschichte große Erfahrung hat, nimmt allein die mittelalterliche Epoche in den Blick und folgt dabei einem innovativen, modernen Konzept.
Das neue Konzept
Gerade das Mittelalter hat im Interesse breiter Kreise und in der Jetztzeit ungeheuer an Faszination gewonnen, sodass eine Fokussierung auf diese Epoche der Wiener Stadtgeschichte durchaus Sinn macht. Auf aktuelle kulturell-historische Vorlieben und Trends zu reagieren ist freilich bloß ein Teil der Motivation, »zur Feder zu greifen«. Maßgeblich und bestimmend ist die Absicht, das Ganze unter ein neues Konzept zu stellen, dem Buch einen weitaus differenzierteren, ja »feingliedrigeren« Aufbau zu geben, als dies bisher der Fall war.
Ein chronologischer Überblick neuen Stils
Der chronologische Überblick über das Werden Wiens stellt zwar auch diesmal einen völlig unverzichtbaren Teil dar, er wird allerdings in einer bislang noch nie gegebenen »Engführung« mit den aus der jeweiligen Zeit erhalten gebliebenen Quellen dargeboten. Nachrichten aus erzählenden Überlieferungen, Annalen, Chroniken, Tagebüchern usw., bilden gemeinsam mit urkundlichem Material, Stadtrechtsprivilegien, städtischen Urkunden mit Bezug auf zahllose Aspekte des städtischen Alltags, sogenannte »Ordnungen« für bedeutende Einrichtungen, wie die Bürgerschule oder die Handwerkerverbände, die Grundlage dieser – im Vergleich zu älteren Wien-Geschichten – ungleich authentischeren, an zeitgenössischen Aussagen orientierten chronologischen Erzählung.
Acht thematische Zugänge zum mittelalterlichen Wien
Diesem Abschnitt des Buches wird ein annähernd gleich langer zweiter Hauptteil gegenübergestellt, in dem es um analytische Zugriffe auf die Wiener Stadtgeschichte geht. In thematischer Gliederung in acht verschiedene Bereiche geht es hier um die Eröffnung von Einsichten in Geschehen wie in Verhältnisse, die für das mittelalterliche Wien prägende Bedeutung haben:
Wissensgrundlagen – zeitgenössische Quellen und Überlieferungen
Den Anfang macht ein Überblick zur vorhandenen Überlieferung, um damit aufzuzeigen, woher das dem Publikum vorgestellte Wissen denn überhaupt kommt. Der Bogen umschließt dabei nicht nur schriftliche, sondern auch bildliche Überlieferungen, er spannt sich von einem reichen und ebenso aussagekräftigen städtischen Amtsschrifttum, darunter etwa Grundbüchern oder Stadtrechnungen, bis hin zu erstaunlich frühen Stadtplänen und -ansichten.
Die räumlichen Gegebenheiten als äußerer Rahmen
Der Stadtraum, dessen Entwicklung und Grenzen, die Kommunikation innerhalb desselben, die kirchlichen wie profanen Bauten und die vorstädtische Zone bilden einen entscheidenden Rahmen für jede städtische Entwicklung. Gerade dieser räumliche Bezugsrahmen hat in der jüngeren wie der aktuellen Forschung (spatial turn) großes Interesse auf sich gezogen. Deutlich treten dabei der weitgehende Verlust bzw. die radikale Veränderung der Stadtarchitektur hin zu unserer eigenen Gegenwart hervor, damit verbunden auch ein tiefgreifender Bedeutungswandel, etwa im Verständnis der sogenannten Vorstädte, die im Mittelalter eine weitaus geringere Fläche einnahmen als später, etwa ab dem 18. Jahrhundert.
Infrastruktur und Gefüge als Lebensgrundlagen
Das Funktionieren des sozialen wie wirtschaftlichen und politischen Gefüges Wiens ist nur vor dem Hintergrund der technischen Infrastruktur (Stadtmauer, Verkehrsverbindungen, Wasserzufuhr und -abfuhr) wie der infrastrukturellen Gegebenheiten auf sozialem Gebiet (Gesundheit, Fürsorge, Bildung) zu verstehen. Dabei trifft der moderne Mensch vielfach auf ebenso Fremd- wie Eigenartiges, Befremdendes wie Abstoßendes, zugleich aber auch Faszinierendes.
Stadt und Stadtherr – ein vielfach ambivalentes Verhältnis
Politische Aspekte dominieren die Ausführungen über das keinesfalls immer konfliktfreie Verhältnis zum Stadtherren, zu Markgrafen, Herzögen, bisweilen auch Königen oder Kaisern aus babenbergischem oder habsburgischem Haus. Mit einem Begriffspaar wie »Agieren« und »Reagieren« lässt sich dies von beiden Seiten her, sowohl der des Herrschers wie der der Stadt, ihrer Repräsentanten und bürgerlichen Fraktionen, gut charakterisieren. Als herausragende Kulminationspunkte sind gewaltsam ausgetragene Konflikte bei Wechseln und Krisen in der Herrschaft der Dynastie zu sehen, in deren Gefolge einflussreiche Bürger und höchste Repräsentanten der Stadtregierung mehrfach Vertreibung und Hinrichtung zu gewärtigen hatten. Äußere Bedrohungen dagegen waren vor der Ersten osmanischen Belagerung – dem Endpunkt der Ausführungen in der Neuerscheinung – eher selten.
Der rechtliche Rahmen für die städtische Einwohnerschaft
Die eingehende Erläuterung der rechtlichen Verhältnisse innerhalb der Stadt zielt nicht zuletzt darauf ab, derartige Spannungen besser einordnen und verstehen zu können. Dabei stecken Privilegien der Stadtherren bloß den äußeren Rahmen ab, innerhalb dessen sich unter zusehends verstärkter bürgerlicher Beteiligung Regelungen vor allem zu Grundbesitz und Erbrecht ausbilden und das bürgerliche Stadtregiment und dessen Verwaltung entwickeln. Ein besonderer Stellenwert kommt Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit zu, wobei bestimmte Stadtbewohnerinnen und -bewohner eigenen, nicht-städtischen Rechtskreisen (Gerichtsbarkeit über Geistliche, Judengericht, Universitätsgericht) unterliegen. Die Mannigfaltigkeit der Einwohnerschaft, die Stellung von Frauen und das Phänomen des »Wienerischen« finden gleichfalls Erörterung. Letzteres, das »Wienerische«, zeigt sowohl im Hinblick auf das sprachliche Profil als auch auf die Charakteristik hier lebender Menschen schon früh unverwechselbare, eigenständige Züge – und dies trotz einer noch eher bescheidenen Aussagekraft der vorliegenden Überlieferungen.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse
Womit Wienerinnen und Wiener ihr Leben bestreiten, dies findet in Ausführungen zu den wirtschaftlichen Gegebenheiten eingehend Behandlung. Für die mittelalterliche Stadtökonomie Wiens kommen dem Weinbau, einem mannigfaltig aufgebauten Handwerk und dem Handel mit beachtlicher Fernwirkung zentrale Bedeutung zu. All das bildet die Basis für ein vom Grundsatz her prosperierendes Wirtschaftsgefüge der Stadt wie ein akzeptables Auskommen breiter Kreise der städtischen Bevölkerung, konnte freilich im Fall von Krisen, ausgelöst durch politische Spannungen, Seuchen, Stadtbrände usw., vorübergehende oder länger andauernde Einbrüche erleben.
Leben im mittelalterlichen Wien
Die Grundlagen für ein eingehenderes Verständnis von Wien im Mittelalter sind somit gelegt, und, gleichsam all das gesamthaft umfassend, ist zuletzt dem Stadtleben breite Beachtung zu schenken. Das Leben mittelalterlicher Wienerinnen und Wiener ist eingebettet in ein dem heutigen Menschen weitgehend fremdartig anmutendes Verständnis von Zeit, in ein dem modernen Blick ungewohntes Raumgefüge und in Lebensbedingungen, die der Gegenwart kaum zuzumuten wären. Dass mittelalterliche Städterinnen und Städter in ihrem Leben freilich auch Angenehmes, Schönes und Vergnügen kannten – neben kirchlichen Festen und Veranstaltungen, verbunden mit Umzügen wie einer frühen Schauspieltradition, ausufernden Festlichkeiten, wie der Sonnwendfeier und dem Fasching, attraktiver Events für viele, darunter das Pferde- und Fußrennen des sogenannten „Scharlachrennens“ aus Anlass der Jahrmärkte oder Schützenfeste –, wird vor den Leserinnen und Lesern zuletzt ausgebreitet. Dabei wird mittelalterliche Stadtgeschichte vielleicht sogar bunter und lebendiger, als dies bei vielen anderen Zugängen und Analysen überhaupt möglich wäre.
Hilfestellung für das Publikum – Ausstattung und Ziel
Der Überzeugung, dass erst ein wichtiges Analysetool den raschen und präzisen Zugang zu den breit angelegten Ausführungen ermöglicht, ist die Beifügung eines umfassenden Orts-, Personen- und Sachregisters geschuldet. Mit insgesamt 48 Abbildungen, deren Auswahl sich an Kriterien, wie geringer(er) Bekanntheit in der Allgemeinheit, der bewussten Verwendung von Detailausschnitten aus durchaus bekanntem Bildmaterial, insbesondere aber dem Bestreben, Dargelegtes bildlich (noch) besser zu verdeutlichen, wird das in modernen (historischen) Publikationen so unersetzlich gewordene Element der Illustration in breitem Umfang eingesetzt. Interessierten Leserinnen und Lesern wird ein modern konzipiertes, auf aktuelle Forschungstrends wie auch Publikumsinteressen abgestimmtes Werk vorgelegt, das lange Vergangenes in all seinem Reichtum an fremd (und doch vertraut) anmutenden Facetten vor uns treten lässt.