Schriftenreihe "Arbeiten zu Sprachgebrauch und Kommunikation zur Zeit des Nationalsozialismus" – ein Interview mit Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster
12 December 2022
New Books in Literature and Cultural Studies
Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster, "Arbeiten zu Sprachgebrauch und Kommunikation zur Zeit des Nationalsozialismus", (V&R unipress 2022)
Wir freuen uns, bei V&R unipress eine neue Schriftenreihe zu veröffentlichen mit dem Titel "Arbeiten zu Sprachgebrauch und Kommunikation zur Zeit des Nationalsozialismus". In der Reihe erscheinen qualifizierte Werke zu aktuellen Forschungen über Akteure, Kommunikationsbereiche und -formen des Nationalsozialismus, die mit neuen linguistischen Ansätzen und Methoden Sprache und Sprachgebrauch im Nationalsozialismus analysieren.
Wir trafen Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster, Herausgeberinnen der Reihe und Autorinnen der ersten Bände "Im Nationalsozialismus, Teil 1 und Teil 2". Mit ihnen redeten wir über den Sprachgebrauch im Nationalsozialismus, inwiefern Sprache zur Festigung der Diktatur beitragen kann, welche Schwerpunkte die neue Reihe bei der Erforschung dieser Themen setzen kann, sowie neue und geplante Projekte in der Reihe.
1. Welches Ziel hat die Schriftenreihe? Welche Ergebnisse werden hier zusammengetragen? Was sind die Ziele der Forschungsprojekte? Welche Bände sind noch geplant?
Diese neu gegründete Schriftenreihe soll der Ort für die linguistische Forschung zu den Jahren 1933 bis 1945 sein. Im Zuge unserer Studien, deren Ergebnisse wir mit der zweibändigen Publikation „Im Nationalsozialismus“ vorgelegt haben, konnten wir feststellen, dass die NS-Zeit in vielerlei Hinsichten noch nicht zureichend erforscht ist, sowohl in methodischer als auch in empirischer Hinsicht. Die Möglichkeiten der Korpuslinguistik und der maschinellen Textauswertung etwa erschließen methodisch Ansätze, die bisher in der linguistischen NS-Forschung noch nicht angewendet wurden. Auch bieten soziopragmatische sowie textlinguistische und konversationsanalytische Ansätze ein Instrumentarium, das zu neuen Befunden führt. Hinsichtlich der Gegenstände ist die NS-Zeit insofern noch nicht annähernd erschlossen, als bisher z.B. die Akteure der breiten Gesellschaft kaum in den Blick genommen wurden. Sie sind es aber, die die sprachliche Wirklichkeit geprägt haben.
In den 21 Beiträgen unserer zweibändigen Publikation haben wir jeweils entsprechende Ansätze verfolgt, so dass unsere Publikation idealerweise den Beginn eines die bisherige sprachgeschichtliche NS-Forschung erweiternden Paradigmas darstellt. Die sprachliche Diversität dieser Epoche ist weiter zu erforschen und die methodische Vielfalt ihrer sprachwissenschaftlichen Aufarbeitung ist zu entwickeln. Konkret haben wir bereits drei weitere Bände in der Planung. Im nächsten Jahr wird eine Publikation zu sprachlich-kommunikativen Praktiken, mit denen Widerstand gegen den Nationalsozialismus ausgeübt worden ist, herauskommen. Außerdem wird die Habilitationsschrift unseres Projektmitarbeiters Friedrich Markewitz erscheinen, in der es um Ironie in Texten aus dem Ghetto Litzmannstadt geht. Der dritte geplante Band ist die Publikation von Beiträgen unserer Abschlusstagung, in denen wiederum bisher kaum betrachtete Kommunikationsmedien und -domänen untersucht werden. Dazu gehören etwa Tarnschriften oder die Sportberichterstattung. Mit der Reihe „Arbeiten zu Sprachgebrauch und Kommunikation zur Zeit des Nationalsozialismus“ laden wir zur Fortschreibung ein.
2. Was sind die Ergebnisse der beiden Auftaktbände in wenigen Sätzen? Was kann man grob zum Sprachgebrauch im Nationalsozialismus sagen?
Unsere Forschung ist korpusbasiert. Wir haben ein Textkorpus im Umfang von rund 25 Millionen Wortformen ausgewertet. Methodisches Grundprinzip unserer Studien war die Unterscheidung des Sprachgebrauchs nach Akteuren, deren Sprachgebrauch wir nach kommunikativ- und soziopragmatischen Ansätzen, aber auch in lexikalisch-semantischer Hinsicht erforscht haben. Eine unserer zentralen Leitfragen war wesentlich bestimmt von der nationalsozialistischen Idee der sog. „Volksgemeinschaft“. Mit der Idee ist nicht nur ein Inklusionsversprechen verbunden, sondern auch die „alltägliche Grenzziehung zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung“ (Wildt 2019: 24). Wir konnten nun herausarbeiten, mit welchen sprachlichen Mitteln Zugehörigkeit und Ausgrenzung vollzogen werden. Die Grenzziehung prägt nicht nur den öffentlichen Diskurs des NS-Apparates, sondern zwingt ebenso NS-Affine wie Ausgeschlossene oder den Widerstand zu Positionierungen – sei es beim Formulieren von Beschwerden, im Feldpostbrief oder auch im Tagebuch, wobei teils auch Texttraditionen umgestaltet werden. Durch unsere Untersuchungen wird zudem die Bandbreite der sprachlichen Exklusionspraktiken und -strategien deutlich: Dazu gehört nicht nur die Thematisierung von Gewalterfahrungen und die Thematisierung eines ausgrenzenden Sprachgebrauchs selbst, sondern das Erleben von etwa demütigenden Handlungen in Gerichtsprozessen oder bei Haftaufenthalten. Neben der Erschließung dieses Gewaltpotentials wird jedoch auch deutlich, welche subversiven sprachlichen Handlungen im Umgang mit Macht möglich waren. Insgesamt verdeutlichen unsere beiden Bände, wie sich eine Grundidee, nämlich die einer rassistisch geschlossenen Volksgemeinschaft, in sprachliches Handeln ‚übersetzt‘.
3. Inwiefern hat Sprache als Instrument zur Festigung der Diktatur beigetragen?
Zweifellos spielt Sprachgebrauch eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang. Gut erforscht ist ja bereits der Sprachgebrauch derjenigen Akteure, die wir als NS-Apparat zusammengefasst haben. Insbesondere die Propagandasprache Goebbels’ ist hier zu nennen. Seine Reden sind der sprachlich manifestierte Wille zu Manipulation, Suggestion und quasi-religiösen Überhöhung. Stabilisatoren des Regimes waren aber die NS-Affinen. Der sprachliche Beitrag dieser Gruppe bestand insbesondere in der Perpetuierung typischer NS-Phrasen, Argumentationsmuster oder Leitwörter. Das lässt sich sehr gut in Tagebüchern und Briefen nachweisen. Wichtig ist festzuhalten: Die NS-Affinen, die das Regime stabilisiert haben, waren bereits zu der antisemitisch-rassistischen Ideologie des NS disponiert, so dass der Topos von der Manipulation irreführend ist. Auf einen weiteren Aspekt ist hinzuweisen: Wir sollten nicht z.B. vom Wortgebrauch unreflektiert auf Weltsicht schließen. Leitvokabeln wie Ehre oder Pflicht etwa, die als NS-Wörter gelten, kommen ebenso in Texten des Widerstands oder der Ausgeschlossenen vor, meinten dort aber etwas gänzlich Anderes. Auch an der Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks wie anständig lässt sich dies nachweisen. Die linguistische Aufgabe bestand in solchen Fällen darin, semantische Umdeutungen des NS-Gebrauchs zu zeigen, etwa in den Beiträgen zu Arbeit oder Freiheit. An diesen Beispielen wird deutlich, wie wichtig und eigentlich unabdingbar es ist, zunächst nach dem Akteur bzw. der Akteurin zu fragen, die einen wesentlichen Aspekt der Kontextabhängigkeit von Sprachgebrauch darstellen. Sprache und Kommunikation spielen unseres Erachtens jedoch insgesamt auch eine zentrale Rolle bei der Konstitution und Tradierung von Menschen- und Weltbildern und mithin bei der Vergemeinschaftung von Menschen. Die Rolle von Sprache ist allein schon deshalb nicht zu unterschätzen, weil durch Sprache soziale Kategorien, Typisierungen und Zuschreibungen, die besondere Relevanz in einer Gesellschaft besitzen, vermittelt werden; durch Sprache werden etwa zentrale (alte Kämpfer) und Randfiguren (etwa Märzgefallene, Meckerer) bestimmt, ebenso wie die durch den NS spezifisch gedeuteten Sozialfiguren Mann und Frau. Bezeichnungen wie Ahnenbuch sind zudem nicht nur als vom NS-Apparat geschaffene Bezeichnungen wichtig, sondern mit ihnen ist auch eine spezifische, rassistische Perspektive auf menschliche Ordnungen verbunden. Zudem eröffnet allein Sprache die Möglichkeit, Deutungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu prolongieren und so Bezüge etwa zwischen Gegenwart oder Antike herzustellen.
4. Welche Rolle nehmen die Ausgeschlossenen hierbei ein? Welche die Widerständigen? Wie unterschied sich die Sprache der jeweiligen Gruppen?
Im Gesamtgefüge der sprachlichen Wirklichkeit setzen die Ausgeschlossenen, ebenso wie die NS-Affinen und der Widerstand, den ethischen aufgeklärten Diskurs, den Diskurs der Menschenrechte und der Moral fort, der in der Aufklärung und den Anfängen der Menschenrechtsbewegung im 18. Jahrhundert grundgelegt wurde. Ihre Tagebücher sind in diesem Zusammenhang die Kommunikationsform der Entlarvung. Kommunikativ-pragmatisch sind die Tagebuchbeiträge der Ausgeschlossenen und Dissidenten die Entsprechung der Täuschungsakte des NS-Apparats. Täuschung und Entlarvung, auch verstehbar als ein Wahr-Sagen, lässt sich insofern als ein kommunikatives Grundprinzip der NS-Zeit vorstellen. Gleichzeitig verifizieren die entlarvenden Beiträge der Ausgeschlossenen und der Dissidenten die These von der Unhaltbarkeit der sprachlichen Manipulation seitens des Apparats. Zwar führen die ausgeschlossenen und dissidenten Akteure keinen öffentlich wahrnehmbaren Diskurs. Er bleibt zur Zeit seiner Entstehung und Realisierung im Verborgenen ihrer Tagebücher. Insofern hat dieser Diskurs zeitgenössisch auch nicht gewirkt. Dennoch hat er existiert. Er kann und muss daher aus heutiger Sicht als Teil der Sprachgebrauchsgeschichte der Jahre 1933 bis 1945 bewertet werden. Was aus den Tagebüchern der Ausgeschlossenen außerdem erkennbar und als wesentliches Kennzeichen von Sprachgebrauch in der NS-Zeit beschreibbar ist, ist der Forschungsperspektive ‚Sprache und Emotion‘ zuzuordnen. Insofern die Diktatur ganz wesentlich auf Gefühle setzte, um ihre Macht zu erlangen und zu erhalten, lässt sich dieses Phänomen auch sprachlich beschreiben, nicht nur für die Gruppe der NS-Affinen (emotionsbezeichnende Leitwörter sind hier z.B. Begeisterung und Ekel), sondern auch für die Ausgeschlossenen, die z.B. mit einem zunehmenden Gebrauch des Ausdrucks Angst in ihren Tagebucheinträgen belegt ist. Zum Widerstand rechnen wir diejenigen Einzelpersonen oder Gruppen, die auf die Überwindung des Nationalsozialismus hinwirkten. Diese führten entweder ein Doppelleben oder agierten aus der Illegalität bzw. aus dem Exil heraus. Der Widerstand ist weltanschaulich außerordentlich heterogen und reicht von konservativ ausgerichteten Gruppen bis hin zu kommunistischen Kadern. Netzwerke, bevorzugte Kommunikationsmedien bzw. -modi, Texttypen (etwa Denk- vs. Streitschriften), sprachliche Praktiken und Verfahren unterscheiden sich erheblich. Dabei lassen sich die unterschiedlichen politischen und sozialen Milieus bis in unterschiedliche Formulierungsmuster hinein verfolgen. Trotz dieser Unterschiede dienen viele Texte neben dem schon genannten Entlarven dem Mobilisieren der eigenen Anhängerschaft und dem Auffordern zum aktiven oder passiven Widerstand. Etliche Schriften zeichnen sich durch einen ironischen, teils auch durch einen zynischen Sprachgebrauch aus.
5. Lassen sich heute in Zeiten von „Rechtsruck“ und „Propaganda-Politik“ Bezüge zum Sprachgebrauch des NS herstellen?
Das nationalsozialistische Prinzip der sog. „Volksgemeinschaft“ wird sprachlich realisiert durch ausschließenden Sprachgebrauch, der die Exklusion von Menschen, die aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden, bewirkte. Der Ausschluss wurde rassistisch begründet und nicht nur durch die Propaganda und durch die Gesetzgebung des NS-Apparats realisiert. Sondern auch die NS-Affinen haben durch antisemitische rassistische Hetzschriften sehr wesentlich zu diesem Ausschluss beigetragen. Hetzschriften sind textsortengeschichtlich eine Variante der Schmähschriften, die seit dem Frühneuhochdeutschen dazu dienen, etwaige (vermeintliche) Gegner zu diffamieren und zu diskriminieren. In der NS-Zeit bestehen die Hetzschriften des affinen Teils der Bevölkerung aus Ansammlungen von Verleumdungen und den bekannten antisemitischen Stereotypen. Das haben wir in einem Kapitel unserer Publikation dargestellt. Ausschließender Sprachgebrauch und Hetzschriften sind auch heute diejenigen sprachlichen Strategien, mit denen der heutige Antisemitismus, die Xenophobie unserer Zeit sprachlich manifest werden. Das Medium ist ein anderes, indem diese Akte sprachlichen Ausschlusses und der Hetze insbesondere im Internet und in den sozialen Medien stattfinden. Das sprachliche Prinzip aber ist dasselbe. Neben dem Diffamieren geben heutige rechts- und auch linkspopulistische Akteure vor, Missstände zu ‚entlarven‘ und andere darüber aufklären zu müssen, dass man sich in einer Diktatur befände. Dabei stellt sich insbes. der Rechtspopulismus häufiger in die Tradition des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Dies ist als eine Form des Geschichtsrevisionismus zu verstehen: Sich auf Dissidenz und Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu beziehen, verkennt den fundamentalen Unterschied im Hinblick auf Motive und Ziele zwischen Widerstandsgruppen und dem heutigen Populismus.
*Heidrun Kämper hat Germanistik und Politologie an den Universitäten Hamburg und Braunschweig studiert. Seit 1993 arbeitet sie am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache. Seit 2000 leitet sie dort den Arbeitsbereich ›Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts‹. 2005 hat sie sich mit einer sprachwissenschaftlichen Arbeit zum ›Schulddiskurs 1945 bis 1955‹ an der Universität Mannheim habilitiert.
Britt-Marie Schuster hat Germanistik, Politologie und Philosophie an der Universität Marburg studiert. Nach einer Habilitation zur historischen Fachkommunikation an der Universität Gießen ist sie seit 2009 Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Paderborn. Ihre Forschungen konzentrieren sich auf die linguistische Text- und Kommunikationsgeschichte.