Ein Gespräch mit Arist von Schlippe zu „Das Karussell der Empörung“
13 October 2022
New Books in Psychology
Arist von Schlippe, "Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen", (Vandenhoeck & Ruprecht 2022)
Konfliktbremse statt Eskalation: Der Diplom-Psychologe Arist von Schlippe vermittelt in seinem neuen Buch ein systemisches Verständnis für Konflikte und ihre psychologischen Mechanismen. Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls „Führung und Dynamik von Familienunternehmen“ am Wittener Institut für Familienunternehmen, Lehrtherapeut für systemische Therapie, Coach und Supervisor. „Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen“ ist mit einem Vorwort von Anita von Hertel und Illustrationen von Björn von Schlippe jetzt bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.
Wofür steht das Symbol des Karussells im Titel Ihres neuen Buches?
Die wichtigste Aussage des Buchs liegt darin, Konflikte als selbstorganisierte Systeme zu betrachten. Wenn diese einmal entstanden sind, werden die Betroffenen immer mehr von der Konfliktdynamik, die sie selbst in Gang gesetzt haben, vereinnahmt. Konflikte reduzieren die Verhaltensmöglichkeiten der Beteiligten oft drastisch, und es ist sehr schwer, ein solches System wieder zu verlassen. Mit ihren Aktionen kommen die Beteiligten dabei meist nicht vorwärts, sondern drehen sich im Kreis, es passiert „immer wieder dasselbe“. Das Einzige, was sich ändert, ist die Geschwindigkeit und damit die Eskalation.
Welche Auswirkungen hat es auf die Psyche, wenn sich das „Karussell“ immer häufiger und immer schneller zu drehen beginnt?
Wenn man zu lange Karussell fährt und sich immer schneller dreht, wird man schwindelig. So ist es auch mit Konflikten: Die Gefühle sind in Aufruhr und die Wahrnehmung wird immer einseitiger, das Denken verengt sich, ja sogar Gedächtnis und Erinnerung werden beeinträchtigt. Alles wird der Logik des Konflikts untergeordnet.
Inwiefern hilft ein systemisches Verständnis von Konflikten weiter, um Eskalationsmechanismen zu erkennen?
Wer sich bewusst wird, dass er nicht mehr ganz „Herr (oder Herrin) im eigenen Hause“ ist, der kann sensibel für die Fallen werden, die der Konflikt mit sich bringt. Ein Beispiel: Der Konflikt lädt dazu ein, dass man sofort reagieren muss („Damit er nicht denkt, dass er damit durchkommt!“) und dass man sich nur „wehrt“, selbst wenn man sich destruktiv verhält. Man macht sich damit aber blind für den eigenen Anteil am Konfliktgeschehen. Wenn man sich klarmacht, dass man in dem Moment der Logik dieses Mechanismus‘ folgt, hat man die Chance gegenzusteuern – also beispielsweise erst einmal „nichts“ zu tun, z. B. eine „konstruktive Pause“ einzulegen und dem „Sog der Dämonisierung“ zu widerstehen, statt impulsiv „zurückzuschlagen“ o. ä. Ich nenne das auch „entautomatisieren“.
Aus welchen wissenschaftlichen Disziplinen schöpfen Sie für Ihr Buch?
Mein Ausgangspunkt ist die Psychologie, ich beschreibe zahlreiche, gut untersuchte psychologische Mechanismen. Indem ich diese in das Bild vom Karussell integriere, greife ich auf die Systemtheorie zurück, die eher in einem sozialwissenschaftlichen Kontext steht. Das Konzept der „Affektlogik“ ist von dem Psychiater Ciompi entwickelt worden, doch in die von ihm ausgearbeiteten neurowissenschaftlichen Hintergründe gehe ich nur ansatzweise hinein.
Sind diese Erkenntnisse auf unsere Alltagserfahrungen und -konflikte anwendbar?
Ich habe im dritten Teil des Buches versucht, so konkret wie möglich Anregungen zu geben, an welchen Momenten im Konfliktalltag man sich so verhalten kann, dass ein Unterschied entsteht, der einen Ausstieg aus dem Karussell ermöglicht.
Welche aktuellen politischen Konflikte lassen sich mit Ihrem Modell auch genauer verstehen? Können Sie ein Beispiel nennen?
Das ist eine Frage, die mich und viele Menschen natürlich gerade aktuell umtreibt. Während ich noch an dem Buch schrieb, kam es zu dem Überfall auf die Ukraine und ich konnte viele der Mechanismen im Fernsehen verfolgen, die ich beschrieb. Schwerpunktmäßig beschreibe ich Konflikte im sozialen Nahraum, aber viele Überlegungen lassen sich auf größere Systemdynamiken übertragen. In dem Kapitel „Wer herrscht, wenn Krieg herrscht?“ habe ich die Unmöglichkeit des „Managements“ von Konflikten beschrieben. Ich habe als Beispiel dafür die Camp-David-Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten unter Moderation des US-Präsidenten angeführt. Es waren optimale Bedingungen, und doch hat der Prozess die Beteiligten aufs Heftigste gefordert und war mehrfach kurz vor dem Scheitern. Die Hoffnung zu gewinnen, ist einer der gefährlichsten Konflikttreiber.
Was möchten Sie gern bei den Menschen erreichen, die sich Ihrem Buch widmen?
Ich habe in der „Gebrauchsanleitung für dieses Buch“ am Anfang die Einladung ausgesprochen, dass man sich beim Lesen immer wieder fragen könne, wo ihnen die beschriebenen Mechanismen in der Alltagswelt bekannt vorkommen. „Consciousness raising“, also die Herstellung von Bewusstheit, ist für mich ein Schlüssel dafür, konstruktiver mit Konflikten umzugehen und die eigene Empörung zu begrenzen.
Werden Sie diese Fragen in Ihrer Forschung weiterhin beschäftigen?
Das Buch fasst meine Erfahrungen aus verschiedenen Arbeitsfeldern zusammen. Ich war über Jahrzehnte in klinisch-psychologischen Kontexten tätig und habe dort mein Wissen als Familientherapeut und systemischer Therapeut vor allem in der Arbeit mit Familien erworben. 2005 wechselte ich dann an das Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Seitdem habe ich Erfahrungen mit Konfliktlagen in Unternehmerfamilien gesammelt und mich schwerpunktmäßig mit den Möglichkeiten befasst, hier Konflikten vorzubeugen. Jetzt bin ich im Ruhestand und nur noch in Teilzeit an der Universität, doch diese Forschungsperspektive werde ich weiterverfolgen.
Welchen praktischen Ratschlag zum Umgang mit Konflikten möchten Sie an dieser Stelle mitgeben?
Da wir nun über Bewusstheit schon mehrfach gesprochen haben, nehmen wir vielleicht das Konzept der kleinen, symbolischen Gesten. Im Konflikt unterbricht man meist jegliche Form von konstruktiver Interaktion. Dabei sind es gerade solche Gesten, kleine Freundlichkeiten etwa, die für eine Verbesserung der Atmosphäre sorgen können. Wichtig ist, dass sie unabhängig vom Verhalten des Gegenübers gegeben werden, auch keinesfalls das Ziel der Besänftigung verfolgen sollen (darum sollten sie auch klein sein). Es sollte auch nicht erwartet werden, dass der andere sich darauf positiv bezieht, eher geht es darum, sich selbst damit deutlich zu machen, dass man dem Totalitätsanspruch des Konflikts Widerstand leistet: Ich lasse mir ein freundliches Wort, eine kleine Geste, mit der ich zeige, dass ich an einer Verbesserung der Beziehung interessiert bin, nicht verbieten!