Eric Voegelin Studies. Ein Interview mit Nicoletta Scotti Muth

    10 June 2022

New Books in Philosophy
Editors: Nicoletta Scotti Muth and Christian Schwaabe, "Representation and Truth: Approaches to Eric Voegelin’s Political Philosophy", (Brill | Fink 2022)

Mit Erscheinen des ersten Bandes fiel der Startschuss für das Jahrbuch der Eric Voegelin Studies. Flankiert wird das Yearbook von den Supplements, deren Bände spezifische Themen und Aspekte, die im Jahrbuch verhandelt werden, weiter ausführt. Mit den Reihen soll das Werk Eric Voegelins rekonstruiert werden und so zu einem besseren Verständnis beitragen. Wir haben mit der Herausgeberin Nicoletta Scotti Muth über Eric Voegelin und ihre Pläne für die Eric Voegelin Studies gesprochen.

Warum sollten wir Voegelins Texte jetzt, im 21. Jahrhundert, lesen? Worin besteht seine Aktualität? Was hat er uns heute noch zu sagen?

Eric Voegelin ist ein post-ideologischer Denker, wie er selbst in der Vorrede zu seinem opus magnum Order and History deutlich erklärt. Wir befinden uns heute in einem in gewisser Weise „post-ideologischen Zeitalter“, – oder zumindest bilden wir es uns (noch?) ein– darum ist es heute mehr denn je instruktiv, Voegelin zu lesen, um über unsere aktuellen Stellung in der Geschichte zu reflektieren. Die spektakuläre geschichtliche Analyse von Order and History – die sich vom III Jahrtausend v. Chr. bis zum VI Jh. n. Chr. erstreckt, und die von der in seiner älteren History of Political Ideas durchgeführten Analyse der geschichtlichen Entwicklung der westlichen Zivilisation flankiert wird – ist außerdem von der Frage geleitet: was heißt Menschheitsgeschichte (history of humanity)? Teilen wir noch miteinander die Erfahrung, „geschichtlich“ zu leben, oder sind wir am Ende der Geschichte angelangt und bewegen uns wie Atome in einem Vakuum? Ein weiterer Grund, Voegelin heute zu lesen besteht darin, dass seine interkulturelle und interdisziplinäre Denkweise dem starken Verlangen sowohl nach Dialog als auch nach neuen Synthesen unserer globalen und dennoch verzettelten Kultur entgegenkommt. So herausfordernd es auch ist, Voegelin heute zu lesen, einfach ist es jedoch nicht. Und dies vorwiegend aus zwei Gründen: zum einen, lässt er sich nicht leicht einer allgemeinbekannten Denkschule der Gegenwart zuordnen, was seine Anerkennung im akademischen Milieu erheblich erschwert, zum anderen, weil er ein Universalgelehrter war, und eine erfolgreiche Lektüre seines Werkes eine gewisse Vertrautheit mit unterschiedlichen Disziplinen voraussetzt. Voegelins Ansatz ist außerdem sokratisch: ein Leser ohne Fragen wird sich für Voegelins Suche kaum begeistern lassen. Ein geeigneter Einstieg in Voegelins Denken bieten deshalb auch die Beiträge, die er für ein breiteres Publikum verfasst hat.

Welche Themen sind für die Zukunft geplant?

Diese Frage möchte ich beantworten, indem ich kurz auf die Ausrichtung der doppelten Reihe Eric Voegelin Studies: Yearbook und Supplements eingehe. Insofern Voegelins Werk erst seit einem Jahrzehnt (fast) vollständig im Druck erhältlich ist, und ein erheblicher Teil davon (insbesondere die achtbändige History of Political Ideas) bis zu seinem Tod unveröffentlicht blieb, geht es in erster Linie darum, dieses Werk behutsam zu rekonstruieren, zu verstehen und vor allem zur Geltung zu bringen. Damit setzt die Reihe die herausragende Arbeit, die bisher vor allem von Peter J. Opitz, Jürgen Gebhardt und den amerikanischen Herausgebern der Collected Works geleistet wurde, fort. Eine deutsche Ausgabe von Order and History ist bereits seit über 15 Jahren vorhanden und weitere auf Italienisch, Französisch, Portugiesisch, Polnisch, Tschechisch und Chinesisch sind im Gange – dennoch bleibt Voegelin immer noch sowohl im breiteren philosophischen wie auch im politikwissenschaftlichen Milieu ein „bekannter Unbekannter“. Dies mag wohl auch an der Komplexität seines Denkens und an seiner scheinbaren „Unzeitgemässheit“ liegen. Dennoch: damit ein Denker zum „Klassiker“ wird, müssen sich eine kritische Analyse und eine Hermeneutik seines Werkes zuerst langfristig etablieren. Parallel dazu will die Reihe die Gelegenheit für Essays bieten, mit Voegelin verwandte Themen „in Voegelins spirit“ weiterzudenken, oder sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, oder auch sich auf unkonventionelle Parallelen „mit anderen Denker“ einzulassen. Insbesondere der Synergie dieser beiden Perspektiven möchte die dreifache Aufteilung der Yearbook-Bände dienlich sein: der erste Teil hat einen monographischen Charakter, während der zweite (Voegelin‘s Intellectual Environment) und dritte Teil (Selected Book Reviews) Vergleiche und Weiterdenken anregen und unterstützen möchten.

Wie würde Voegelin als Religionsphilosoph die Entwicklung der Religionen im 21. Jahrhundert einschätzen?

Das Phänomen „Religion“ ist bei Voegelin mehrdeutig und erfuhr auch im Laufe der Zeit eine gewisse Entwicklung. Grundsätzlich lassen sich bei ihm die unterschiedlichen Religionen den jeweiligen Formen von „Ordnungserfahrungen“ zuordnen, die sie symbolisch ausdrücken. Geschichtlich-soziologisch beobachtet er verschiedene „Ordnungserfahrungen“: die kosmologische, die geschichtliche, die philosophische, die ökumenische, die gnostische, usw., die nicht nur diakronisch sondern zeitlich auch parallel verlaufen. Nicht alle diese Formen sind jedoch einer „Transzendenzerfahrung“ fähig. Voegelin spricht in diesem Sinne von „leaps in being“, die manche Religionen vollzogen haben und andere nicht. Eine authentische Religion gewährleistet die persönliche Freiheit, und bietet einen wirksamen Antidot gegen Vermassungstendenzen unterschiedlicher Art, die den politischen Gesellschaften innewohnen. Zwischen Religion und Politik muß deshalb seiner Meinung nach immer eine gesunde Spannung herrschen. Voegelin reflektiert ausgiebig jene Bewusstseinsformen, die die religiöse Bewusstseinsebene zu sperren scheinen, seien sie rationalistisch, empiristisch, funktionalistisch oder im Allgemeinen szientistisch ausgerichtet. Seine Intention könnte in mancher Hinsicht mit der Foucaults oder der Frankfurter Schule, sowie mit der von Arendt und Strauss, Jaspers und Heidegger verglichen werden, ist jedoch im Gegensatz zu diesen entscheidend meta-physisch ausgerichtet – wobei es sich bei ihm eher um eine fragende als um eine systematische Metaphysik handelt. Doch seine fundamentalen Bezugspunkte blieben m. E. bis zum Schluss Platon und Augustinus, wobei eine reichliche Inspirationsquelle auch Aristoteles, das Epos der antiken Zivilisationen, die Bibel, die griechische Tragiker, sowie Autoren der westlichen Moderne wie Cusanus, Shakespeare, Pascal, Vico, Bergson, Santayana, Henry und William James, Whitehead und viele andere darstellen. Dialektisch konnte Voegelin natürlich auch denken: Sehr aufschlussreich und lesenswert in dieser Hinsicht ist seine Korrespondenz, vor allem die mit Alfred Schütz, Karl Löwith und Leo Strauss.

Worin besteht Voegelins Unkonventionalität und Originalität als politischer Philosoph?

Voegelin breitete das Spektrum des Politischen weit über seine institutionellen und juristischen Grenzen hinaus. Dies wird besonders in Der Neuen Wissenschaft der Politik deutlich und weiterhin in Order and History reichlich dokumentiert. Jede historisch-politische Gesellschaft bildet ein kosmion. In diesem Begriff sind verschiedene Inhalte impliziert: ein kosmion ist eine geordnete und selbstständige Einheit, die unterschiedliche Sinnebenen intendiert, und dessen Teile untereinander komplex-gestufte Relationen aufweisen, die sich symbolisch ausdrücken und darum interpretationsfähig und -bedürftig sind. Die Sinnebene ist beispielhaft durch den mehrdeutigen Repräsentationsbegriff der New Science of Politics verdeutlicht, dessen Bedeutung sich keinesfalls in dem der politischen Repräsentanz erschöpft, sondern als Nachahmung eines Analogon höheren Grades versteht. Es handelt sich offensichtlich dabei um einen platonischen Begriff, den Voegelin wie kein anderer zur Geltung gebracht und neu gedacht hat, indem er ihn mit dem Begriff „Geschichte“ in Verbindung brachte. Das Politische und das Geschichtliche sind bei Voegelin intrinsisch miteinander verbunden. Dies zu verdeutlichen würde uns aber an dieser Stelle zu weit führen…

Wie muss man sich die Zusammenarbeit der Eric-Voegelin-Gesellschaft mit dem Voegelin-Zentrum an der Universität München vorstellen?

Die zwei Instanzen sind sozusagen aus demselben Ei entsprungen – nämlich dem von Peter J. Opitz 1990 am Geschwister-Scholl-Institut der LMU gegründeten Eric-Voegelin-Archiv – und kooperieren bestens miteinander. Von 1958 bis 1968 wirkte Voegelin als Gründer und Leiter des Instituts für Politische Wissenschaften an der LMU München. Seine Vorlesungen übten damals auf eine ganze Schar junger Studenten eine faszinierende Wirkung aus. Auch nach seiner Rückkehr in die USA blieben sie zum Teil mit ihm und untereinander in Verbindung. Diese Beziehungen bildeten den Kern der Voegelin-Gesellschaft, die heute aus vielen Mitgliedern besteht und international weit vernetzt ist. Die Gesellschaft initiiert und realisiert regelmäßig wissenschaftliche Veranstaltungen zu Voegelin-bezogenen Themen in enger Zusammenarbeit mit dem Voegelin-Zentrum an der LMU – so auch die Etablierung der beiden neu gegründeten Reihen mit Brill|Fink. Die Gesellschaftsmitglieder nehmen an diesen Aktivitäten der Gesellschaft teil und treten teilweise auch als Referenten bei diesen Veranstaltungen auf. Ebenso wurde die neu geschaffene Eric-Voegelin-Lecture an der LMU gemeinsam mit dem Voegelin-Zentrum etabliert, in deren Rahmen jährlich ein führender Wissenschaftler ein anspruchsvolles Referat mit engem Voegelin-Bezug an der LMU halten wird, das erste Mal in diesem Sommer durch Hans Joas. Das Voegelin-Zentrum an der LMU stellt gleichsam die universitäre Verbindung zu dem seinerzeit von Voegelin gegründeten Institut dar. Dort befindet sich eine gut ausgestattete Voegelin-Bibliothek (weitere Literatur ist bei der LMU-Zentralbibliothek und der Bayrischen Staatsbibliothek zu erhalten, sowie an der Eric Voegelin-Bibliothek der FAU Erlangen). Jüngere und ältere Forscher finden deshalb am Voegelin-Zentrum einen Bezugspunkt, um ihre Forschung weiterzuführen.

Frau Scotti Muth, wir bedanken uns!

Nicoletta Scotti Muth ist die Hauptherausgeberin der italienischen Ausgabe von Eric Voegelins Ordnung und Geschichte (Vita e Pensiero) und seit 2015 Präsidentin der Eric-Voegelin-Gesellschaft. In den von ihr mitbegründeten Eric Voegelin Studies sind die Bände Israel and the Cosmological Empires of the Ancient Orient (Eric Voegelin Studies: Supplements, 2021) und Representation and Truth. Approaches to Eric Voegelin’s Political Philosophy (Eric Voegelin Studies: Yearbook, 2022) erschienen.