Generation im Aufbruch: Ein Interview mit Christof Dipper und Heinz Duchhardt über deutsche Historiographie
12. Juni 2024
Neue Bücher in GESCHICHTE
Christof Dipper und Heinz Duchhardt, "Generation im Aufbruch",
(Böhlau, 2024)
Sie haben sich, nachdem es in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten kein vergleichbares Projekt mehr gegeben hat, der Herausforderung gestellt, in Autoergographien ein Bild der Geschichtswissenschaft und seiner Entwicklung nach 1945 bis nahezu in die Gegenwart zu zeichnen. Was waren die Beweggründe, dieses Mammutprojekt anzugehen?
Seit einiger Zeit kann man die Rückkehr des Autors in die Wissenschaft beobachten, zunächst im Ausland, seit kurzem auch bei uns. Das hat uns ermutigt, diesen Prozess systematisch anzugehen, d.h. nicht zuzuwarten, bis der eine oder andere Kollege selber zur Feder greift, sondern führende Vertreter des Fachs direkt anzusprechen und um einen Beitrag zu bitten. Unsere Disziplin gewinnt durch die subjektive Perspektive erheblich an Farbigkeit, aber auch die Strukturen des Fachs, die „Schulen“, die Dynamiken von zentralen Standorten, werden nun viel transparenter und verständlicher.
Warum haben Sie sich für dieses Format entschieden (Autoergographien)? Was ist für Sie der Mehrwert eines autobiografischen Zugangs zur Geschichte?
Die Wege in unser Fach und im Fach, die Motive für die gewählten Schwerpunkte, die Pfade (und ggf. Sackgassen) des beruflichen Fortkommens, der subjektive Blick auf unsere Disziplin und ihre Persönlichkeiten sowie nicht zuletzt die persönliche Bilanz des Lebenswerks – all das sind Dinge, die man nur von den Betroffenen glaubhaft erfahren kann, die aber für ein realitätsnahes Bild unseres Fachs, wie wir meinen, eigentlich unverzichtbar sind.
Die Beitragenden des Buches vereint der Weg in die Geschichtswissenschaft, und doch haben sie alle sehr unterschiedliche Lebensläufe/-wege. Gibt es etwas, was für Sie aus diesen unterschiedlichen Geschichten besonders heraussticht?
Das Ende der bürgerlichen (und meist protestantisch geprägen) Selbstergänzung der akademischen Welt ist in diesen Autobiografien mit Händen ebenso zu greifen wie das Ende des von Rücksichtnahmen weitgehend freien und umso mehr Selbst- und Sendungsbewusstsein sich hingebendem Großordinarius früherer Zeiten. Wir begegnen hier der ersten Generation, die sich als Teil einer kollegial verfassten Universität verstand und in hohem Maße über den deutschen Tellerrand hinausblickt (und ihre Schüler dazu anhält).
Was ist die wichtigste Essenz, die Sie aus dem Projekt für sich mitgenommen haben?
Wir haben gelernt, dass und wie die Geschichtswissenschaft in immer schnellere Bewegung geraten ist (und sich dabei immer weiter fragmentiert), dass der Weg vom „Einzelkämpfer“ angesichts der Menge der auf den Nachwuchs zielenden Fördermöglichkeiten und Formate hin zum Teamworking unumkehrbar geworden ist (andererseits wegen der vielen Förderinstrumente der Weg zum „großen Buch“ eines Einzelnen aber auch noch nicht verbaut ist), und dass die Frauen – von denen leider zu wenige zu Wort gekommen sind – die Forschungslandschaft besonders nachhaltig bereichert haben.
Was würden Sie sich für die Geschichtswissenschaft heute wünschen? Was ist heute anders?
Dass die jüngeren Kolleginnen und Kollegen dieselben Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten bekommen wie unsere Autoren. Heutzutage bestimmt eine von Unternehmergrundsätzen geprägte Hochschulpolitik und entsprechend gesteuerte Universitätsleitung („Produkte“) in hohem Maße den universitären Alltag. Ungleichheit durch Wettbewerb ist gewollt, aber die Kriterien, nach denen sich heute wissenschaftliche Leistung bemisst, begünstigen die „Windschlüpfrigkeit“ und erschweren die Originalität. Und wir sollten uns dessen bewusst bleiben, dass Forschungsdatenmanagement nicht die höchste Stufe der Wissenschaft ist.
Inwiefern haben Frauen durch ihre Perspektive auf die Geschichtswissenschaft das Fach nachhaltig bereichert?
Frauen und Geschlechtergeschichte (!) hat unseren Blick auf die Vergangenheit ungemein erweitert, besonders wenn man sie, wie in diesem Band von unseren Autorinnen praktiziert, als Teil der allgemeinen Geschichte versteht. Denn das 'richtige' Leben besteht bekanntlich
(mindestens) aus zwei Geschlechtern und da nach neuerer Ansicht auch das Private politisch ist, sind der Historie jetzt praktisch keine Grenzen gesetzt.
Und sehen Sie auch Vorteile beim "Teamworking" als Kontrast zum "Einzelkämpfertum"?
Die staatliche und private Förderpolitik zielt auch in den Geisteswissenschaften seit den 1980er Jahren auf großrahmige Formate, die enorme Quellenmassen nur durch Kooperation erschließen oder auf Interdisziplinarität und vor allem die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ausgelegt sind. Aus ihnen entstehen entweder quellenbasierte Auswertungsbände oder aber - häufiger - akademische Qualifikationsschriften, allenfalls noch Sammelbände. Diese Entwicklung ist offensichtlich unumkehrbar. Um so wichtiger ist es, dass auch die von einer einzelnen "reifen" Persönlichkeit verfassten "großen"
Monographien ihren Platz im Fach behalten und entsprechend (z. B. durch das Historische Kolleg) gefördert werden. Das eine darf das andere nicht ausschließen.