Dina Porat, "Die Rache ist Mein allein", (Brill | Schöningh 2021)
Die Historikerin Dina Porat beleuchtet erstmals umfassend die Geschichte von 50 jungen Frauen und Männern, die im Untergrund in Osteuropa die Schoa überlebten. Nach dem Krieg beschlossen sie, sechs Millionen Deutsche zu töten. Abba Kovners Organisation Nakam wollte der Welt zeigen, dass jüdisches Blut nicht ungestraft vergossen werden dürfe. Auf Grundlage einer Fülle von Zeugenaussagen und von Quellen, die bisher in Archiven, in Broschüren oder in den Häusern der ehemaligen Mitglieder der Nakam-Gruppe verborgen lagen, wird das Geschehen in vielen erstaunlichen Einzelheiten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Dina Porat erzählt die packenden historischen Fakten verwoben mit Fragen nach Moral, die sich beim Thema Rache unvermeidlich stellen. „Die Rache ist Mein allein“ ist jetzt, aus dem Hebräischen übersetzt von Helene Seidler, bei Brill | Schöningh erschienen.
Wann haben Sie zum ersten Mal von Nakam gehört?
Das war in den 1990er Jahren. Damals begann ich meine Arbeit an der Biografie von Abba Kovner, die ich 2010 in Stanford veröffentlicht habe.
Was ist das Besondere an dieser paramilitärischen Organisation?
Es handelte sich um gar keine paramilitärische Gruppe, sondern nur um einen Haufen Überlebender, von denen die meisten während des Krieges als Partisan*innen, in den Ghettos oder im Untergrund gekämpft hatten. Sie stammten also alle aus informellen Gruppen, die ad hoc entstanden waren.
Wie viel war bisher über die Gruppe Nakam bekannt? Was bringen Sie zum ersten Mal an die Öffentlichkeit?
Nur wenige Menschen in Israel kannten oder kennen diese Geschichte. Denn die Beteiligten hielten sie bis Mitte der 1980er Jahre geheim. Und selbst dann blieb die Gruppe weitgehend unbekannt. Bisher widmeten nur zwei, drei Forschende der Geschichte einen Platz in ihren Büchern. Die ganze Geschichte ist also neu für die Öffentlichkeit, sowohl in Israel als auch in Deutschland (im Jahr 2000 wurde ein kleines Buch von zwei deutschen Journalisten veröffentlicht), und es ist das erste Mal, dass die Geschichte im Detail aufgedeckt wird, gestützt auf eine große Menge an Archivmaterial und Dutzende von Zeug:innnaussagen.
Wo haben Sie Ihre umfangreichen Recherchen angestellt?
Zunächst habe ich Aussagen von Zeug*innen gesammelt und Material über 34 der 50 Mitglieder der Gruppe zusammengetragen. Etwa zwanzig Personen von ihnen habe ich ein ums andere Mal befragt, um Einzelheiten zu verifizieren. Außerdem fand ich in einigen Dutzend Archiven viele weitere Zeugnisse von anderen Personen, die mit der Geschichte der Gruppe zusammenhängen, sowie weiteres Material, das nie zuvor veröffentlicht wurde. Die Mitglieder der Gruppe gaben mir all das Material, das sie zu Hause aufbewahrten, während sie jahrzehntelang darauf gewartet hatten, dass jemand sich endlich ernsthaft mit ihrer Geschichte befasst und diese aufschreibt. Aus den vielen Gesprächen sind Freundschaften entstanden.
Können Sie uns ein Beispiel für ein Detail nennen, das Sie bei Ihren Recherchen besonders überrascht hat?
Ja, ich kann sogar mindestens zwei Beispiele nennen. Das eine ist die folgende Erkenntnis: Es war allgemein bekannt, dass der Jischuw – das ist die hebräische Gemeinschaft unter dem britischen Mandat – und ihre Führung absolut gegen Nakam waren. Doch ich habe in den Archiven herausgefunden, dass auch sie, nachdem sie ihre Familien verloren hatten, die sie in Europa zurückgelassen hatten, begierig waren, Rache zu nehmen. Zwar nicht an sechs Millionen Menschen – Gott bewahre! Aber eben doch in einem kleineren Maßstab, insbesondere an den ehemaligen SS-Mitgliedern. Die zweite große Überraschung war das Protokoll einer amerikanischen Untersuchung nach der Brotvergiftung in einem SS-Gefangenenlager: Den Ermittelnden kam gar nicht die Idee, dass es Jüdinnen und Juden gewesen waren, die das getan hatten!
Welche Fragen bleiben unbeantwortet? An welchem Punkt sollten andere Forschende Ihre Arbeit aufgreifen und fortsetzen?
Eine Frage, die noch unbeantwortet ist, betrifft die Jüd:innen, die einzeln oder in Gruppen von zwei bis drei Personen Rache nahmen: Wie viele es waren? Wie viele Deutsche konnten sie finden und töten? Wo und wie gelang ihnen das? Denn die meisten von ihnen hinterließen fast keine Spuren. Hierzu weiß man also bis heute kaum etwas.
Inwieweit wirft das Buch übergreifende moralische Fragen auf, die über das Thema der Shoah hinausgehen?
Solche Fragen spielen in meinem Buch eine große Rolle. Denn die Fragen, die mit der Geschichte von Nakam aufgeworfen werden, sind die gleichen, die nach jedem Völkermord gestellt werden: Was ist die angemessene Strafe? Wer genau sollte bestraft werden? Auf welche Weise? Für eine wie lange Zeit? Wie können Gerechtigkeit und die öffentliche Ordnung in der Welt überhaupt wiederhergestellt werden? Wie kann vor weiteren Verbrechen solcher Art gewarnt werden?
Es heißt, Ihr Buch „liest sich wie der beste Kriminalroman“. War es auch Ihr Ziel, als Sie es schrieben? Worauf lag der Fokus, als Sie Ihre Forschungsergebnisse in diesem Buch festhielten?
Mein Ziel war es, mich genau an die Details zu halten, die ich gefunden habe. In erster Linie wollte ich ein möglichst umfassendes Bild zeichnen, das ganz nah an der Realität bleibt. Daher entspricht der Stil meines Buchs eher dem einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit. Es liegt viel mehr an der Geschichte, die so dramatisch ist, dass sie sich tatsächlich wie ein fesselnder Kriminalroman liest.
*Dina Porat ist emeritierte Professorin der Geschichte des Judentums an der Universität Tel Aviv, Vorsitzende des Kantor Center for the Study of Contemporary European Jewry an derselben Universität und seit 2011 Leitende Historikerin der Gedenk- und Studienstätte Yad Vashem.