Systemische Therapie jenseits des Heilauftrages

    26 January 2021

Tanja Kuhnert (Hg.), Mathias Berg (Hg.) »Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags«, (Vandenhoeck & Ruprecht 2020)

Focus Trauer: Krank oder gesund? Was ist für Systemiker*innen zu tun?

Im Laufe ihres Lebens erfahren die meisten Menschen, was es bedeutet, eine Bezugsperson durch den Tod zu verlieren. Dabei verarbeitet die Mehrheit der Hinterbliebenen den Verlust ohne Probleme und allein mit der Unterstützung des sozialen Umfeldes, vor allem mit Hilfe von Familienmitgliedern und Freunden. Einigen Betroffenen reicht das jedoch nicht, sie wünschen sich mehr Unterstützung und äußern diesen Wunsch auch gegenüber Systemischen Berater*innen und Systemischen Therapeut*innen. Approbierte Fachkräfte können ihre therapeutischen Dienste mit den Krankenkassen abrechnen. Bisher gibt es nur wenige approbierte Systemische Psychotherapeuten, jedoch eine Vielzahl systemischer Therapeut*innen ohne Heilerlaubnis, die häufig im sozialarbeiterischen Handlungsfeld tätig sind. Mit der Anerkennung der Systemischen Therapie als Richtlinienverfahren in der psychotherapeutischen Versorgung stellen sich zahlreiche Fragen, unter anderem auch die nach den Grenzen und Zuständigkeiten von systemischen Therapeuten und systemischen Psychotherapeuten.

Hiermit setzen sich in dem Buch „Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags“ nicht nur die Herausgeber Tanja Kuhnert und Dr. Mathias Berg auseinander, sondern auch viele andere Systemiker*innen.  Diese Auseinandersetzung führt “in ein morastiges Gebiet, in dem man schnell ausrutscht, in Wespennester greift oder sich an Stacheldrahtzäunen verletzt oder sich die Zähne ausbeißt (Ochs, 2020, S.29)“. Tom Levold erläutert, dass „die Unterscheidungen als Antwort auf die besonderen berufs- und sozialrechtlichen Reglungen der Psychotherapie im deutschem Gesundheitssystem zu verstehen sind“ (Levold, 2020, S.344), sie resultieren aber auch aus dem  Arbeitsgegenstand, also der Arbeit mit Klient*innen im jeweiligem Arbeitsfeld, sowie den  fachpolitischen, rechtlichen und ökonomischen Entwicklungen.

In Bezug auf das Thema Trauer wird die Frage nach den Grenzen und Zuständigkeiten immer dringlicher. So findet sich in der elften Revision der ICD (ICD-11) eine trauerspezifische Diagnose namens ‚Prolonged Grief Disorder‘, kurz PGD genannt, auf Deutsch etwa: anhaltende Trauerstörung. Spätestens mit der Einführung der ICD-11 im Januar 2022 stellt sich dann die Frage: Können, sollten oder müssen systemische Therapeut*innen ohne Heilauftrag Hinterbliebene mit einer anhaltenden Trauerstörung an approbierte Kolleg*innen weiterverweisen? Eng verknüpft mit dieser Frage ist die grundsätzliche Überlegung, ob Trauer aus systemischer Sicht überhaupt eine Krankheit sein kann. 

Trauerdefinition

Es gibt zahlreiche Definitionen des Begriffs Trauer. Ganz grundsätzlich kann darunter die natürliche Reaktion auf eine Verlusterfahrung bzw. der Anpassungsprozess an die neue, veränderte Lebenssituation verstanden werden. Müller et al. (2020) betonen, dass der Anpassungsprozess insbesondere durch ein Interagieren zahlreicher Faktoren z.B. soziales Umfeld, Art der Beziehung, wirtschaftliche Situation, Umwelt gekennzeichnet ist und die Individualität jedes Prozesses Berücksichtigung im Umgang mit Betroffenen finden muss. Trauer ist zunächst als normale Verlustreaktion definiert. Es ist ein Erleben, welches sich in der Interaktion mit anderen zeigt. Letztlich resultiert es aus den Beziehungen, die Menschen miteinander eingehen. Das Verständnis von und die Auseinandersetzung mit Bindungen und Beziehungen wiederum gehört zu den Kernkompetenzen Systemischer Berater*- und Therapeut*innen.

Kompetenzen und Störungswissen

Unstrittig ist, dass Trauernden, die sich hoch belastet fühlen, psychotherapeutische Unterstützung angeboten werden sollte, um eine chronische Entwicklung der Trauersymptomatik zu verhindern. Denn unverarbeitete Verluste können langfristig nicht nur psychische Störungen zur Folge haben, sondern auch somatische Erkrankungen sowie eine erhöhte Mortalität  (Wagner, 2016, S. 255). Problematisch sind jedoch die in der ICD-11 aufgeführten Kernsymptome anhand derer „normale“ und problematische Trauerverläufe unterschieden werden sollen. So geht es nicht mehr um das Vorliegen einer Mindestanzahl spezifischer Symptome, sondern um die Ausprägung typischer Dimensionen wie z.B. Sehnsucht. Das lässt sich Frage aufkommen, über welches störungsspezifische Wissen Kolleg*innen verfügen müssten, um einen Übergang von „normal“ zu „krankhaft“ wahrnehmen zu können? Ab wann würden sie Betroffene an einen Psychotherapeuten überweisen „müssen“ und wann nicht? Bezüglich der Arbeit mit Trauernden lässt sich weiterhin fragen, wie das, was Systemiker*innen genau machen, zu bezeichnen ist? Begleiten, beraten, therapieren, psychotherapieren? Leider ist das breite Feld systemischen Handels in Bezug auf die Versorgung Trauernder noch recht klein und unbedarft. Es gibt in der Kompetenzbeschreibung zum Thema Trauer noch viel offene Fragen.

Das ganze systemische Feld

Systemische Therapeut*innen mit dem Schwerpunkt Trauer fühlen sich bisher kompetent in der Beratung von Trauernden. Das Ludewigsche Schema: Anleitung, Begleitung, Beratung und Therapie als Grundarten professionellen Handels (Ludewig, 1997) bietet eine praktikable Unterscheidung von unterschiedlichen Praxisformaten, den unterschiedlichen Wünschen und Bedarfen Trauernder zu begegnen. Bindungs- und Beziehungsthematiken sind ohnehin Gegenstand jeder Grundausbildung.  Doch die Ansätze systemischen Arbeitens zeigen keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen systemischer Therapie und systemischer Psychotherapie auf. Was braucht es daher?

Handlungssicherheit mit offenen Grenzen

Tatsächlich wird im deutschsprachigen Raum kaum langfristige und systematische Trauerforschung betrieben, auch die Erkenntnisse der internationalen Trauerforschung sind kaum bekannt, so dass wenig evidenzbasiertes Wissen vorliegt, anhand dessen Fachkräfte ihr Handeln ausrichten können (Müller & Willmann, 2020). Daher sind Wissensaustausch, -transfer und Vernetzung zwischen Forschung und Praxis   wesentliche Faktoren, um einer bedarfsgerechten und wirksamen Versorgung Trauernder näherzukommen. Der Newsletter „Trauerforschung im Fokus“ (www.trauerforschung.de) kann beispielsweise dabei helfen, überhaupt Einsicht in aktuelle Erkenntnisse der Trauerforschung zu nehmen. Doch auch die Formulierung eines Wissens- sowie Kompetenzkatalogs sowie die Erprobung und Anwendung des Wissens scheint notwendig, um das Handeln der Fachkräfte auf eine sichere Grundlage zu stellen. Verlust und Trauer sind „lebenslängliche Querschnittsthemen“, die Schaffung einer tragfähigen Arbeitsgrundlage sollte aber aufgrund dessen nicht vernachlässigt werden – auch nicht von Systemiker*innen.    

 

Susanne Kiepke-Ziemes ist Diplom-Sozialpädagogin und Lehrende für Systemische Beratung, Therapie, Supervision und Coaching (DGSF) und arbeitet als Trainerin für Palliative Care u. Palliative Praxis (DGP).

 

Literatur

Kiepke-Ziemes, S. (2020). Systemische Beratung und Therapie in der Hospizarbeit und Palliativversorgung. In: Kuhnert, T., Berg, M. Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.273-284

Kuhnert, T., Berg, M. (2020). Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 

Müller, H., Kiepke-Ziemes, S., Albang, M., Münch, U. (2020). Trauer im palliativen Kontext: eine Definition. In: Zeitschrift für Palliativmedizin, 21, 148-150.

Müller, H., Willmann, H. (2020). Trauerforschung. Basis für praktisches Handeln. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 

Ochs, M (2020). Fließende Übergänge. In: Kuhnert, T., Berg, M. Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.29-60

Wagner, B. (2016). Wann ist Trauer eine psychische Erkrankung? Trauer als diag-nostisches Kriterium in der ICD-11 und im DSM-V. In: Psychotherapeutenjournal, 15 (3), 250-255.